Alexander Samjatin kämpft in Moskau für eine alternative Kommunalpolitik
Alexander Samjatin, hier im Vordergrund bei einer Demonstration, ist Bezirksabgeordneter im Moskauer Stadtteil Sjusino. Dort erlangten Oppositionelle im September 2017 erstmals eine knappe Mehrheit. Als Linker steht Samjatin trotzdem ziemlich alleine da. Foto uw
Sie wurden 2017 als unabhängiger Kandidat gewählt. Welche Ziele haben Sie sich damals gesetzt?
Meine Strategie besteht darin, Politik offen und transparent zu gestalten. Alle haushalts- und sozialpolitischen Fragen, ja eigentlich alle für Stadtpolitik relevanten Punkte werden in Moskau unter Ausschluss der Menschen verhandelt, die hier leben. Die Stadtverwaltung hält ganz bewusst Informationen über die Verteilung der Haushaltsmittel zurück. Zum Beispiel warum es vor drei Jahren noch zwei Polykliniken im Bezirk gab und heute nur noch eine. Über die Hintergründe soll die Bevölkerung nichts wissen. Mein Anliegen ist genau das Gegenteil, nämlich diese publik zu machen.
Ist der Status eines Bezirksabgeordneten dabei hilfreich?
Durchaus. Dieser Tage war ich beim stellvertretenden Präfekten für das Renovationsprogramm. Er ist schlecht auf mich zu sprechen, weil ich auf Facebook meine Einschätzungen darüber teile, was ich von ihm als Verwaltungsvertreter in Erfahrung bringe. Deshalb weigerte er sich zunächst mich vorzulassen. Aber als Abgeordneter habe ich das Recht bei ihm vorzusprechen. Dabei ist es für ihn in gewisser Weise sogar einfacher mit mir zu kommunizieren als mit Bürgern ohne Mandat. Staatsdiener wollen mit gewöhnlichen Leuten nichts zu tun haben, weil sie sie für inkompetent und aggressiv halten. Es kann schon mal vorkommen, dass jemand ausfällig oder handgreiflich wird. Bei mir ist das nicht der Fall, der Umgang also sicherer. Generell schirmt sich die Verwaltung nach Außen ab.
Suchen die Moskauer Bürger denn überhaupt den Kontakt zur Verwaltung?
Viel zu selten, auch das möchte ich ändern. Die Leute kontaktieren mich wegen irgendwelcher Bauvorhaben oder was sie eben bewegt, weil sie nicht wissen, an wen sie sich sonst wenden können. Ich schlage ihnen vor, gemeinsam zu diesem oder jenem Verwaltungsvertreter zu gehen. Beide Seiten konfrontiere ich miteinander, wovon alle profitieren. Die Bürger, weil sie aus erster Hand hören, dass ihr Anliegen niemanden interessiert, und die Beamten aus der Verwaltung, damit sie vor der nächsten anstehenden Bauplanung an die unmittelbaren Reaktionen aufgebrachter Bürger denken.
Kommt es vor, dass Sie über ihre Vollmachen als Bezirksabgeordneter hinaus gehen?
Formal betrachtet passiert das ständig, weil unsere Vollmachten stark eingeschränkt sind. Ich darf Anfragen an die Exekutive richten und über einzelne Fragen im Bezirksrat abstimmen. Während unserer Kampagne zum Erhalt der lokalen Geburtsklinik war eine Kundgebung vor Ort geplant, aber die Behörden erteilten den Ärzten eine Genehmigung für das andere Ende der Stadt. Daraufhin habe ich in Sjusino von meinem Recht Gebrauch gemacht meine Wähler zu treffen. Ein Verbot gab es nicht, aber formal unterliegen wir Abgeordnete etlichen Beschränkungen, auch inhaltlichen. Ich wurde ständig darauf hingewiesen, dass wir Punkte nicht erwähnen dürfen, die nicht in unsere Kompetenz fallen. Auch den Bürgermeister nicht, der systematisch die Gesundheitsversorgung in der Stadt zerstört. Gehalten haben wir uns daran nicht.
Sie unterstützen die Kampagne eines ihrer Abgeordnetenkollegen, Konstantin Jankauskas, der für die im September anstehende Wahl in das Moskauer Stadtparlament kandidieren will. Hat die Beteiligung an Wahlen für Sie generell Priorität?
Zur Zeit ja. Eine auf Wahlen ausgerichtete Strategie birgt aktuell ein großes Potenzial zur Akquirierung von Ressourcen. Jede Wahlkampagne, unabhängig davon, ob sie mit einem Mandat endet oder nicht, führt neue Menschen an unsere Sache heran. Auch die Spendenbereitschaft fällt dafür recht hoch aus, so dass Agitationsmaterial gedruckt oder einzelne Tätigkeiten mit Geld honoriert werden können. So erweitern wir unseren Aktionsradius und erreichen mehr Leute. Das ist für mich entscheidend, nicht das Wahlergebnis.
Sie verstehen sich als Linker. Wie macht sich das in Ihrer Tätigkeit als Bezirksabgeordneter bemerkbar?
Die Gesellschaft ist extrem apolitisch, weshalb viele Leute allergisch auf Gespräche über Politik reagieren. Von meiner Seite bringe ich ein, dass es sich beispielsweise bei der Schließung der Geburtsklinik nicht allein um private Interessen handelt, wie viele glauben, sondern um auf die Kürzung von Sozialausgaben abzielende neoliberale Politik. Mit anderen Bezirksabgeordneten finde ich durchaus einen gemeinsamen Nenner, aber mir ist klar, dass wir uns auf gegenüberliegenden Seiten der Barrikaden wiederfinden würden, hätten wir über die Höhe von Rentenzahlungen zu entscheiden. Ich schaffe ein Modell für eine zukünftige linke politische Praxis von unten und zeige, dass man als linker Abgeordneter etwas bewirken kann. Auch wenn es Jahre dauert.
Welche politischen Diskussionen werden denn bei Treffen mit Wählerinnen und Wählern geführt?
Die Gesellschaft ist extrem apolitisch, weshalb viele Leute allergisch auf Gespräche über Politik reagieren. Aus ihrer Sicht hat die Mitbestimmung über die Gestaltung ihrer Umgebung nichts mit Politik zu tun, sondern nur Syrien, die Ukraine oder Putin. Ich thematisiere diese Fragen nie, aber oft wollen die Leute nach Versammlungen von mir wissen, wie ich darüber denke. Von meiner Seite bringe ich ein, dass es sich beispielsweise bei der Schließung der Geburtsklinik nicht allein um private Interessen handelt, sondern um auf die Kürzung von Sozialausgaben abzielende neoliberale Politik. Mit anderen Bezirksabgeordneten finde ich durchaus einen gemeinsamen Nenner, aber mir ist klar, dass wir uns auf gegenüberliegenden Seiten der Barrikaden wiederfinden würden, hätten wir über die Höhe von Rentenzahlungen zu entscheiden.
ute weinmann