Kontrollierter Mangel

Die Sowjetunion hatte den Anspruch, ein egalitäres System zu schaffen. Nach ihrem Scheitern sind viele Menschen in Russland arm oder zumindest übergangsweise unterstützungsbedürftig. Für sie stehen einige zwar einige staatliche Leistungen bereit. Doch der russische Sozialstaat ist bei weitem nicht so ambitioniert wie der Kontrollstaat.

Vor bald drei Jahrzehnten verschwand die Sowjetunion von der Landkarte. Doch noch immer gibt es Menschen, die das dort errichtete sozialistische Gesellschaftsmodell als Prototyp des Sozialstaates betrachten, dem die russische Regierung bis heute treu bleibe. In den 1920er Jahren, also in der Zeit der «Neuen Ökonomischen Politik» mit ihren kapitalistischen Wirtschaftselementen, hatte der neue Staat erstmals die Zahlung von Arbeitslosengeld eingeführt. Bereits 1930 hatte sich das Thema erledigt, denn die Arbeitslosigkeit galt offiziell als besiegt. Vollbeschäftigung existierte durch Zwangsarbeit, in der Spätphase der Sowjetunion auch durch Bestrafung von Arbeitsverweigerung sowie eine Arbeitspolitik, die die Gesetze der Produktivitätssteigerung missachtete. Arbeiten wurde als eine unhintergehbare Pflicht verstanden.

Erst kurz vor dem Zerfall der Sowjetunion ließ die damalige Führung Debatten über Armut zu. In die Amtszeit von Präsident Boris Jelzin ab 1991 fällt die Berechnung des physischen Existenzminimums, anhand dessen bis heute die Armutsgrenze errechnet wird. Armut ist demnach gegeben, wenn die monetären Einkünfte unter derzeit umgerechnet 150 Euro fallen. Die russische Regierung beziffert heute den Anteil der von Armut betroffenen Bevölkerung auf 12,9 Prozent. Über die Hälfte russischer Familien mit Kindern leben unter der Armutsgrenze, konstatierte Vizepremierministerin Tatjana Golikowa im Juni. Letztlich handelt es sich hier allerdings um viel zu niedrig angesetzte Rechengrößen, denn ob und welche Grundbedürfnisse sich mit dieser Summe tatsächlich abdecken lassen, steht auf einem anderen Blatt. Die Realität ist dramatischer, als es derartige Regierungsstatistiken scheinen lassen.

Boomsektor Armut

Liegt eine weiter gefasste Definition von Armut zugrunde, ergibt sich ein anderes Bild. ArmutsforscherInnen am Institut für Sozialanalyse der russischen Volkswirtschaftsakademie gehen von dem für Russland als üblich vorausgesetzten Lebensstandard und der entsprechenden Grenze zur Armut aus. Dabei kommen sie zu dem Schluss, dass rund ein Viertel der russischen Bevölkerung von Armut betroffen ist. Eine andere Studie der gleichen Akademie stuft 22 Prozent als arm ein, 35 Prozent könnten sich keine größeren Anschaffungen wie Computer oder Smartphones leisten. Die russische Statistikbehörde Rosstat legt Daten vor, wonach fast die Hälfte der russischen Haushalte über Einkommen verfügt, die gerade mal die Kosten für Lebensmittel und Kleidung decken. Ein weiteres Indiz für das Fortschreiten prekärer Verhältnisse: Perekrjostok, eine der großen Supermarktketten für die gehobene Klasse, kündigte unlängst den Verkauf von Lebensmitteln auf Kredit an.

Angesichts sinkender Realeinkommen – um zehn Prozent seit 2013 – sah sich ein Großteil der russischen Gesellschaft schon in den vergangenen Jahren zu Einschränkungen beim Konsum gezwungen. Gennadij Onischtschenko, Dumaabgeordneter und ehemaliger oberster Sanitärarzt, der über die Einhaltung sanitärer Normen wacht, machte aus der Not eine angebliche Tugend, indem er älteren Menschen davon abriet, solange zu essen, bis sich das Sättigungsgefühl einstellt. Ein wenig Hunger, so seine Botschaft, stärke die Gesundheit. Im vergangenen Herbst behauptete Natalja Sokolowa, inzwischen entlassene Arbeitsministerin im Gebiet Saratow, man könne sich durchaus von 50 Euro im Monat ernähren. Ein Abgeordneter der Kommunistischen Partei im Gebietsparlament begann daraufhin einen Selbstversuch und verlor schon in der ersten Woche an Gewicht. Seine Ration fiel nicht zuletzt deshalb extrem bescheiden aus, weil die realen Lebensmittelpreise über den in offiziellen Statistiken angeführten lagen.

Präsident Wladimir Putin fordert die Halbierung der Armutszahlen bis 2024, doch deuten weder die Struktur noch die Entwicklung der Wirtschaft auf die Erfüllung dieser Vorgabe hin. Eines der zentralen Probleme bleibt die systematische Unterbezahlung von Arbeitskraft. Bezeichnenderweise lag der gesetzliche Mindestlohn bis Ende 2018 sogar unter dem Existenzminimum, erst im Januar fand eine Angleichung statt. Kürzlich legten erste veröffentlichte Ergebnisse einer umfangreichen Studie über den russischen Arbeitsmarkt, die im Auftrag des Rentenfonds entstanden war, erstaunliche Paradoxien offen. Im Vergleich zu den Vorjahren sank nicht nur die Zahl der Beschäftigten, sondern gleichzeitig auch die der Arbeitslosen, Arbeitssuchenden und der offenen Stellen.

Zum Teil mögen demographische Einbrüche diese Angaben erklären. Aufschlussreicher ist hingegen, sich anzusehen, wo es die größten Einbrüche bei den Beschäftigtenzahlen gab. Der Anteil klein- und mittelständischer Unternehmen sank seit 2014 von fast zehn auf 2,3 Prozent, was nach Schätzungen der staatlichen Akademie für Arbeit und soziale Beziehungen einen Verlust von bis zu elf Millionen Arbeitsplätzen nach sich zog. Alexander Safonow, der Vizerektor der Akademie, vermutet, dass sich die Betroffenen ihren Lebensunterhalt in der Schattenwirtschaft verdienen. Nach Angaben der staatlichen Agentur Rosfinmonitoring macht diese ein Fünftel des Bruttoinlandsprodukts aus. Demnach tauchen Millionen von Menschen in keiner offiziellen Statistik als ArbeitnehmerInnen oder Arbeitslose auf und erwerben deshalb kaum oder gar keine Rentenansprüche.

Letztlich muss der Staat dann in die Bresche springen und die Rente auf das Existenzminimum aufstocken. In vollem Umfang kommt dieses Problem erst in Zukunft zum Tragen, zumal sich die Frist durch die Erhöhung des Rentenalters um fünf Jahre – für Frauen ab 60 und Männer ab 65 – nach hinten verschiebt. Dabei versucht der Staat durchaus, mit neuen und strengeren Vorgaben Selbständige zu erfassen und vor allem auch zu Steuerzahlungen zu bewegen. Seit 2019 laufen in vier Regionen Pilotprojekte, die beispielsweise Tätigkeiten in Haushalten, in der privaten Kinderbetreuung oder im Nachhilfeunterricht mit einer Professionssteuer belegen. Erhoben wird diese anstelle der klassischen Einkommensteuer, die Freischaffende ohne Arbeitsvertrag ohnehin nicht zahlen. Es bleibt abzuwarten, ob erweiterte Kontrollmethoden und Strafandrohungen zu mehr Steuereinnahmen führen.

Krisensektor Sozialleistungen

Offiziell liegt die Arbeitslosenrate in Russland bei knapp fünf Prozent, das entspricht etwa 3,7 Millionen Menschen. Bei der Arbeitsagentur sind indes weniger als 700.000 gemeldet. Im Prinzip stehen nur wenige Hürden einer Meldung im Weg. AntragstellerInnen dürfen über kein anderes Einkommen verfügen, nicht als Selbständige eingetragen sein und müssen am Ort ihres ständigen Wohnsitzes vorsprechen, weshalb aber in Moskau ein nicht unwesentlicher Teil der Arbeitslosen keine Ansprüche geltend machen kann. Denn über eine feste Meldeadresse in Moskau zu verfügen, ist an sich schon ein Privileg und für BinnenmigrantInnen nur schwer zu realisieren. Zur Erlangung eines festen Wohnsitzes benötigt man in der Regel eine Eigentumswohnung. Selbst eine befristete Anmeldung setzt ein schriftliches Einverständnis der VermieterInnen voraus, was selten der Fall ist, denn dadurch werden Mietverhältnisse offengelegt, die Einnahmen nahelegen, die kaum jemand versteuert. Ohnehin kann die Zahlung von Arbeitslosengeld aus etlichen Gründen verweigert werden, beispielsweise wenn zwei Arbeitsangebote ausgeschlagen werden. Die minimale Unterstützung beträgt 12 Euro im Monat, die Maximalsumme wurde gerade erst von 70 auf 112 Euro aufgestockt, wobei diskutiert wird, die Höchstdauer der Bezüge von einem Jahr auf sechs Monate zu reduzieren.

Erhält ein Familienmitglied Behindertenrente oder sonstige langfristige staatliche Sozialleistungen, weil beispielsweise die oder der Hauptverdienende arbeitsunfähig oder verstorben ist, verfügen die Betroffenen über ein zwar geringes, aber stabiles Einkommen. Nicht selten bewahrt es sie vor einem Absturz in die völlige Armut. Gerade in strukturschwachen Regionen unterhalten solche Transferzahlungen ganze Familien. Auch Kinder- und Erziehungsgeld garantieren nicht wenigen Familien und Alleinerziehenden einen relevanten Beitrag zum Lebensunterhalt. Schwangeren stehen Einmalzahlungen für die Geburtshilfe zu, die wie das Erziehungsgeld aus den Mitteln der Sozialversicherung vom Arbeitgeber entrichtet werden. Letzteres ist wiederum der Grund dafür, warum junge kinderlose Frauen gar nicht erst eingestellt werden. Wer freiwillig oder gezwungenermaßen schwarz arbeitet, fällt aus diesen Teilen des Sozialsystems komplett heraus.

Im Staatsapparat gibt es unterschiedliche Stimmen, wie mit der prekären Lage großer Teile der russischen Bevölkerung umzugehen sei. Der Chef des Rechnungshofes, Aleksej Kudrin, hält eine vehemente Ausweitung staatlicher Sozialhilfe für Familien für notwendig, da andernfalls eine explosive soziale Gemengelage entstehe. In den Regionen denken die Verwaltungen eher über Sparmaßnahmen nach. Geringverdienende mit eigenem Gartengrundstück könnten in Zukunft von bestimmten Sozialleistungen ausgeschlossen werden, wenn sie Lebensmittel für den Eigenbedarf anbauen können.

Vom sowjetischen Modell, bescheidene Löhne durch vielseitige kostenlose oder preisgünstige Dienstleistungen zu kompensieren, hat sich die jetzige Regierung schon längst verabschiedet. Wer Wert auf eine ausreichende Gesundheitsversorgung und Bildung legt, soll die Kosten selber tragen.

ute weinmann

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