Der russische Präsident Wladimir Putin hat eine weitreichende Änderung der Verteilung politischer Befugnisse angekündigt. Er will nach dem Ende seiner Amtszeit 2024 nicht in den Ruhestand gehen.
»Ich will Veränderungen!« So lautet auf Deutsch der Titel eines Songs, den der Rockstar Wiktor Zoj zu Beginn der Perestroika veröffentlichte. Die Lockerung erstarrter Verhältnisse durfte er noch miterleben, das Ende des Realsozialismus der Sowjetunion nicht mehr. Er starb 1990 bei einem Autounfall. Zojs Titel stand nicht nur für die Wünsche und Forderungen einer ganzen Generation, er überdauerte auch die Jahrzehnte und gewinnt wieder an Aktualität – freilich unter völlig anderen Voraussetzungen. Mehr Mitbestimmung und die Ausweitung grundlegender bürgerlicher Freiheiten sind derzeit nicht vorgesehen. Den Kapitalismus kennen alle schon und der Garant, dass in Russland alles so bleibt wie es ist, plant für eine lange Zukunft.
Den Wunsch nach Veränderungen in weiten Teilen der russischen Bevölkerung hat Putin durchaus zur Kenntnis genommen. Wie dem beizukommen ist, ohne seine eigene Position zu schwächen oder nach Ende seiner derzeitigen Amtszeit 2024 gar den Abgang zu wagen, erklärte er am 15. Januar in seiner jährlichen Ansprache vor der Föderalen Versammlung – ohne allerdings schon allzu viel zu verraten. Klar ist nur: Seine Perestroika (politischer Umbau) sieht diverse Verschiebungen der Befugnisse vor und macht auch nicht vor einer Verfassungsänderung halt. Damit es nicht bei leeren Worten bleibt, trat einige Stunden nach Putins Ansprache die komplette Regierung von Ministerpräsident Dmitrij Medwedjew zurück.
Dessen Nachfolger stand da bereits fest: Michail Mischustin, seit Donnerstag vergangener Woche offiziell Ministerpräsident, wurde von den Staatsmedien umgehend als unbescholtener Profi eingeführt und für seine langjährige Arbeit als Leiter der russischen Steuerbehörde über den Klee gelobt – diese sei durch ihn gar zur besten der Welt avanciert. Mischustins größter Verdienst besteht darin, dem Fiskus trotz Wirtschaftskrise und Stagnation zu steigenden Einnahmen verholfen zu haben. Als Technokrat stand er, anders als sein Vorgänger, nicht in der Schusslinie, was sich nun als Vorteil erweist. Medwedjews Reformen sind unpopulär, ambitionierte Regierungsprojekte greifen nicht. Das soll für Unmut beim Präsidenten geführt haben. Für seinen treuen Compagnon findet er sicherlich Verwendung, nicht aber in der ersten Reihe.
Obwohl seit Monaten über verschiedene Möglichkeiten einer Machtübergabe und das »Problem 2024« debattiert wird, gleicht Putins jüngster Auftritt einem Überraschungscoup. Selbst hochrangige Staatsdiener sollen nicht eingeweiht gewesen sein. Erstmals soll die Staatsduma, das Unterhaus des Parlaments, das Recht erhalten, auf Vorschlag des Präsidenten die Regierung zu ernennen. Die obere Kammer des Parlaments, der Föderationsrat, soll als beratende Instanz zur Festlegung der Leitung der Sicherheitsbehörden fungieren und Verfassungsrichter wie Angehörige des Obersten Gerichts entlassen können.
Der linke Duma-Abgeordnete Oleg Schein von der Partei Gerechtes Russland konstatierte erfreut, damit sei das Ende der Präsidentenrepublik besiegelt und es breche die Ära des Parlamentarismus an. Putin sprach in seiner Rede jedoch vom genauen Gegenteil, nämlich davon, dass Russlands Gesellschaft nicht reif für eine parlamentarische Demokratie sei und ein Präsidialstaat bleibe. Zumindest dürfte das gelten, solange er im Amt ist. Eine weitere Amtszeit bleibt ihm nach geltender Rechtslage, aber auch nach den geplanten Änderungen verwehrt. Als alternative Überinstanz brachte er den bislang kaum relevanten Staatsrat ins Gespräch, zu dessen stellvertretenden Vorsitzenden er prompt Medwedjew ernannte. Wie weit die Vollmachten des Staatsrats in Zukunft reichen könnten, ist noch unklar. Ein Blick ins benachbarte Kasachstan zeigt, dass damit ein Machtorgan geschaffen werden kann, das einem ehemaligen Präsidenten, im dortigen Fall Nursultan Nasarbajew, ausreichend Einfluss verschafft, um als Modell auch für Russland herhalten zu können.
In der geplanten Verfassungsänderung sollen all diese Ideen Berücksichtigung finden. Einige weitere Punkte sorgten bei kritischen Beobachterinnen und Beobachtern für besondere Besorgnis. So soll die Unabhängigkeit der lokalen Selbstverwaltung aufgehoben werden, was offensichtlich eine Reaktion auf die Wahlerfolge Oppositioneller ist, insbesondere bei den Bezirkswahlen in Moskau und St. Petersburg. Zudem soll die Verbindlichkeit von internationalem Recht eingeschränkt werden, so dass etwa Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte keine Wirkung mehr hätten. Putins ehemaliger Imageberater Gleb Pawlowskij will nicht ausschließen, dass diese Ankündigung, die eine kontroverse Debatte ausgelöst hat, ein Ablenkungsmanöver ist, da es für derart weitreichende Änderungen der Einberufung einer Verfassungsversammlung bedarf, die mit erheblichem Aufwand verbunden wäre.
Putin will den Prozess volksnah gestalten und darüber landesweit, allerdings rechtlich unverbindlich, abstimmen lassen. Eine Arbeitsgruppe zur Ausarbeitung von Vorschlägen, die dann in einem Aufwasch abgesegnet werden sollen, hat er bereits ins Leben gerufen. Neben wenigen Fachleuten sind dort ideologisch zuverlässige Kader vertreten, etwa der oberste Kosake Russlands, Nikolaj Doluda, und der patriotische Schriftsteller Sachar Prilepin. Am Montagabend wurde bekannt, dass Putin seinen Vorschlag zur Verfassungsänderung in die Duma eingebracht hat.
ute weinmann