Freiheit für die Gefangenen im Fall «Netzwerk». Foto uw
Wochenlang wurde im »Netzwerk«-Fall das Urteil erwartet, am Montag war es so weit: Im russischen Pensa befand das zuständige Militärgericht die sieben Angeklagten in allen Punkten für schuldig und verhängte Haftstrafen zwischen sechs und 18 Jahren wegen Organisation und Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung. Gegen Einzelne wurde zudem Anklage wegen Drogenhandels und illegalen Waffenbesitzes erhoben. Zwei von ihnen gaben zu, mit Drogen gedealt zu haben. Zu den Hauptvorwürfen aber bekannten sich alle vor Gericht stehenden Antifaschisten und Anarchisten als nicht schuldig.
Dazu hatten sie allen Grund: Nicht nur laut ihren Aussagen vor Gericht existierte überhaupt kein Netzwerk, auch die Anklage konnte keine überzeugenden Beweise vorlegen, die einen schwerwiegenden Terrorismusvorwurf rechtfertigen würden. Die nun als Straftäter Verurteilten haben keinen einzigen Anschlag verübt, es gibt weder einen Tatort, noch gelang es die Tatumstände aufzuklären. Dafür umfasst die Liste an Verfehlungen und offenbar gezielter Beweisfälschung seitens des ermittelnden Inlandsgeheimdienstes FSB ganze Bände.
Vor Gericht berichteten Zeugen der Anklage, unter Druck gesetzt worden zu sein. Ein unter Deckname auftretender Geheimzeuge konnte leicht als der stadtbekannte Neonazi Wlad Gresko ausgemacht werden. Der 23 Jahre alte Antifaschist Ilja Schakurskij, der als einer der vermeintlichen Anführer des «Netzwerkes» zu sechzehn Jahren Strafkolonie mit verschärften Haftbedingungen verurteilt wurde, soll versucht haben Gresko für einen revolutionären Umsturz anzuwerben. In Schakurskijs Wohnung fanden FSB-Angehörige einen Feuerlöscher, der später in den Unterlagen zur «selbstgebauten Bombe» mutierte. Sie hatten mit dem Schlüssel des zu dem Zeitpunkt bereits Festgenommenen Zugang zu der Wohnung, ließen die bei Durchsuchungen erforderlichen Zeugen jedoch erst sieben Minuten später herein. Auf der Festplatte seines Computers stellten die Ermittler zudem die «Satzung» der Gruppe sicher. Allerdings verweist ein Gutachten darauf, dass die entsprechende Datei erst nach Schakurskijs Festnahme eingerichtet worden war.
Doch der größte Skandal ist und bleibt die Anwendung physischer Druckmittel. Einige der Angeklagten hatten angegeben, sich selbst belastende Erstaussagen unter Folter getätigt zu haben. Öffentlich bekannten sie sich dazu erst, nachdem für die Zustände in Haftanstalten zuständige unabhängige Beobachterinnen bei Viktor Filinkow, der beschuldigt wird, einer St. Petersburger Terrorzelle anzugehören, Spuren von Elektroschocks am Körper festgestellt hatten. Am härtesten traf es Dmitrij Ptschelinzew, der, zu achtzehn Jahren Haft verdammt, als der Kopf der Gruppe gilt. In einer Zelle eines leerstehenden Blocks des Untersuchungsgefängnisses, in dem er den Gerichtsunterlagen nach sich nie aufgehalten hat, wurde sein Körper an eine Strommaschine angeschlossen. Nach Rücknahme seines Schuldbekenntnisses wurde er erneut gefoltert. Trotzdem plädierte er bis zum Schluss auf seine Unschuld. Überflüssig zu erwähnen, dass die Foltervorwürfe juristisch nie aufgearbeitet wurden.
Trotz Proteste gegen die Aburteilung und Folter politisch missliebiger junger Männer bleibt der große Aufschrei aus. Bei Teilen der russischen Gesellschaft mag es noch immer ein Grundvertrauen in die Justiz und den Staatsschutz geben, andere blenden die Masse an erschreckenden Nachrichten über fragwürdige Strafverfolgungen und die Zustände in Gefängnissen schlichtweg aus. Wassilij Kuksow kann wahrscheinlich von Glück sprechen, wenn er das Ende seiner neunjährigen Haftstrafe erleben darf. In Untersuchungshaft hatte er sich mit Tuberkulose infiziert, aber die zuständigen Ärzte diagnostizierten erst Monate nach dem Erstverdacht eine offene Form im fortgeschrittenen Stadium.
ute weinmann