Im Prozess gegen russische Anarchisten und Antifaschisten verhängte ein Militärgericht harte Urteile wegen Bildung einer terroristischen Vereinigung. Den Foltervorwürfen gegen FSB-Angehörige wurde nicht nachgegangen.
Ein-Personen-Demo gegen Folter und Repression und für die Freiheit der verfolgten Antifaschisten im Fall »Netzwerk«. Foto uw
Terrorismusvorwürfe haben immer etwas Anrüchiges, selbst dann, wenn sie jeder Grundlage entbehren. Vielleicht hält sich das internationale Medieninteresse hinsichtlich Terrorismusverfahren in Russland aber auch deshalb in Grenzen, weil sie meist die Falschen treffen. So auch im Fall der sieben Antifaschisten und Anarchisten, gegen die am Montag in Pensa der Urteilsspruch gefallen ist. Sie sollen Haftstrafen zwischen sechs und 18 Jahren verbüßen. Mit ihrem »Netzwerk« verfolgten sie, so die Anklage, weitreichende Pläne, um den Staat in Angst und Schrecken zu versetzen. Nur eigne sich dieser Fall wohl nicht für Sensationsnachrichten. Schließlich lässt sich kaum vermitteln, dass eine Gruppe größtenteils sozial engagierter Außenseiter, die sich untereinander nicht einmal alle persönlich kennen und mit ihrer Vorliebe für in Russland populäre taktische Militärspiele im Wald sogar an vertraute männliche Rollenmuster anknüpfen, eine ernsthafte Gefahr für die gesellschaftliche Ordnung darstellen.
Während des acht Monate andauernden Prozesses vor einem Militärgericht demonstrierte die russische Justiz, dass nicht eine überzeugende Beweisführung ausschlaggebend für die Aburteilung Angeklagter ist, sondern wer die Ermittlungen führt. Bei Verdacht auf Mitgliedschaft und Organisation einer terroristischen Vereinigung ermittelt der Inlandsgeheimdienst FSB. Formal untersteht er zwar der Kontrolle anderer Instanzen, doch ist dies in der Praxis irrelevant.
Jedenfalls weigerten sich diese Instanzen kategorisch, Foltervorwürfen gegen FSB-Angehörige nachzugehen, die mehrere der Verurteilten erhoben hatten. Dmitrij Ptschelinzew, der von den Ermittlern zum Anführer des »Netzwerks« erkoren worden war, wurde mit Stromschlägen gefoltert und mit dem Kopf nach unten aufgehängt. Dies bewog ihn zunächst zu einem Schuldgeständnis, das er später revidierte. Dann folgte eine weitere Vernehmung unter Zuhilfenahme physischer Druckmittel. Mit einem Geständnis hätte er vielleicht nur zehn Jahre in einer Strafkolonie vor sich gehabt. So verbleiben ihm unter Berücksichtigung der über zweijährigen Untersuchungshaft noch fast 16 Jahre unter verschärften Haftbedingungen für Schwerverbrecher. In seinem Schlusswort sagte er, er habe viel darüber nachgedacht, wie es so weit kommen konnte. »Daraus kann ich nur einen Schluss ziehen: Wir, das ganze Land, haben wirklich etwas falsch gemacht.«
Ohne die unter enormem Druck erfolgten anfänglichen Selbstbezichtigungen halten die Beweise keiner eingehenden Prüfung stand. Im Wesentlichen baute die Anklage ihr Konstrukt auf Zeugenaussagen auf. Jegor Sorin, auf dessen belastende Aussagen hin das Strafverfahren im Oktober 2017 eröffnet wurde, saß nicht auf der Anklagebank. Bei seiner Vernehmung im Gericht konnte er nicht erklären, wo er sich in den Stunden zwischen seiner faktischen Festnahme und dem im entsprechenden Protokoll festgehaltenen Festnahmezeitpunkt aufhielt. Andere Zeugen der Anklage sagten offen, sie seien unter Druck gesetzt worden. Einen Zellennachbarn soll der zu neun Jahren Haft verurteilte Wassilij Kuksow in seine Pläne eingeweiht haben, einen Aufstand zu organisieren.
Ilja Schakurskij, mit 23 Jahren der Jüngste der Mitgliedschaft im »Netzwerk« beschuldigte und zu einer 16jährigen Haftstrafe verurteilt, stand schon lange unter Beobachtung von Extremismusfahndern, die versuchten, den aktiven Antifaschisten als informellen Mitarbeiter zu gewinnen. Ein in Pensa als Vlad Gresko bekannter Neonazi behauptete unter einem Decknamen vor Gericht, Schakurskij habe versucht, ihn für einen revolutionären Umsturz anzuwerben. Auf dessen Festplatte wollten die Ermittler eine Datei mit der Satzung der Gruppe gefunden haben, die, so ein Gutachten, allerdings erst nach Schakurskijs Verhaftung erstellt wurde. In dessen Wohnung wurde ein Feuerlöscher sichergestellt, der später als »selbstgebaute Bombe« in den Akten auftauchte. Zeugen durften den Fundort während der Hausdurchsuchung erst mit Verzögerung betreten. Da ist es nur konsequent, dass die Verteidigung auf Freispruch plädierte. Zwei Angeklagte gestanden den ihnen zusätzlich zur Last gelegten Drogenmissbrauch.
Bei den Angehörigen löste das Urteil keine Verwunderung aus, eher Wut. »Der Richter las trocken die Zahlen des Strafmaßes vor, ohne irgendetwas an den Formulierungen des Staatsanwaltes zu ändern«, sagte Swetlana Ptschelinzewa, Dmitrij Ptschelinzews Mutter, der Jungle World. »Das zeigt zum wiederholten Mal, dass es sich um eine Vorgabe von oben handelt.« Die Anwälte aller Verurteilten kündigten an, in Revision zu gehen. Zunächst aber warten sie auf die Urteilsbegründung, die vor Gericht nicht verlesen wurde.
Ob Chancen auf Abmilderung des Urteils bestehen, hängt nicht zuletzt davon ab, wie die Öffentlichkeit reagiert. Nach dem Moskauer Protestsommer regte sich in der Hauptstadt Empörung – mit positiven Folgen zumindest für einige Verurteilte. Der Fall in Pensa hingegen scheint nur eine kleine Minderheit zu beschäftigen, trotz der Offensichtlichkeit der in vielen Landesteilen bestehenden Folterjustiz.
ute weinmann
Update: Das harte Urteil rief sowohl in Russland, als auch im Ausland Kritik hervor. Angehörige der Akademie der Wissenschaften, Film- und Kulturschaffende, der Vorsitzende der Partei «Gerechtes Russland» Sergej Mironow und etliche andere Gruppen und Personen forderten, das Urteil zu revidieren oder zumindest den Foltervorwürfen in gebührender Weise nachzugehen. Der Kreml, so Sprecher Dmitrij Peskow am Dienstag, habe in dieser Frage nichts unternommen, weil dies nicht in den Kompetenzbereich der Präsidialverwaltung falle. Die Verteidigung hat zwischenzeitlich Berufung eingelegt.