Gedenken an Kreml-Kritiker Boris Nemzow von aktueller Repression überschattet
In ganz Russland erinnerten am Wochenende Menschen an den vor fünf Jahren direkt vor den Mauern des Kreml ermordeten liberalen Politiker Boris Nemzow. Allein in Moskau fanden sich bei einer Demonstration am Samstag über 22 000 Personen ein. Die russische Linke ignorierte die Veranstaltung weitgehend, obwohl diese sich längst von einem reinen Gedenkmarsch zu einer der zahlenmäßig größten Protestkundgebungen entwickelt hat, bei der ein breites Themenspektrum Platz findet. Nachdem sich Präsident Wladimir Putin im Januar für eine Verfassungsänderung ausgesprochen hatte, entschied das Organisationskomitee, Kritik an diesem Vorhaben in den Mittelpunkt zu stellen.
Erst in der vergangenen Woche wurde bekannt, dass eine Volksabstimmung über die Reform für den 22. April vorgesehen ist — just am 150. Geburtstag von Wladimir Iljitsch Lenin. Freilich nicht aus diesem Anlass soll dieses Datum einmalig als Feiertag deklariert werden. Im Kreml will man offenbar alle Ressourcen ausschöpfen, um eine hohe Zustimmungsquote zu erreichen. Worüber im Einzelnen abgestimmt werden soll, steht noch nicht fest. Bereits im Januar debattierte die Duma über eine Gesetzesinitiative zur Erweiterung der Vollmachten des Staatsrats, des Parlaments und des Föderationsrats. Der mit der Ausarbeitung der zur Abstimmung vorgesehenen Punkte betrauten Kommission liegen inzwischen aber schon über 900 Vorschläge vor.
Trotzdem entsteht bisher nicht der Eindruck, dass die angestrebte Verfassungsreform die Gemüter in Russland sehr bewegt. Weder auf Seiten der Befürworter noch der Gegner. Auf der Demonstration am Samstag fielen zwar zahlreiche Plakate auf, die auf die Angst vor einer weiteren Machtausweitung Putins verwiesen, doch dominierte ein anderes Thema: politische Repressionen. »Mein Russland sitzt im Gefängnis« war auf einem Transparent zu lesen. Neben den Namen etlicher Inhaftierter tauchte am häufigsten der Verweis auf das sogenannte »Netzwerk« auf. Mitte Februar endete in der Stadt Pensa der Prozess gegen sieben Antifaschisten und Anarchisten, die wegen Terrorismus zu Haftstrafen von sechs bis 18 Jahren verurteilt wurden. Nicht allein das ungewöhnlich harte Strafmaß rief über Oppositionskreise hinaus große Empörung hervor. Insbesondere der Umstand, dass die Anklage auf später zurückgezogenen Schuldeingeständnissen basierte, sorgte für Unverständnis. Vieles deutet darauf hin, dass die Ermittler des Inlandsgeheimdienstes FSB die jungen Männer durch physische Misshandlung unter Druck setzten. Eine sorgfältige Überprüfung der Foltervorwürfe ist bislang ausgeblieben.
Zehn Tage nach dem Urteil veröffentlichte das in Riga ansässige Internetportal Meduza Ergebnisse einer im Eiltempo angefertigten Recherche, worin einige der in Pensa Verurteilten mit einem Mordfall in Verbindung gebracht werden. Während die Polizei zwei von ihnen als Zeugen führt, sieht Meduza ihre Täterschaft als erwiesen an. Statt stichfester Beweise, die scheinbar auch den Ermittlern nicht vorliegen, stützt sich der Text auf zweifelhafte Quellen und wirft mehr Fragen auf, als er Antworten gibt. Auch der später nachgeschobene Hinweis auf Versäumnisse ändert daran nichts. Selten traf ein Artikel in einem russischen Oppositionsmedium auf so viel hämische Reaktionen wie dieser.
Die Publikation fiel exakt in den Zeitraum, als nach fast neunmonatiger Pause der Prozess gegen Viktor Filinkow und Julij Bojarschinow, zwei vermeintliche Angehörige einer St. Petersburger Zelle des »Netzwerks«, wieder aufgenommen wurde. Filinkow hatte als erster von Folter gegen sich berichtet. An den ersten Verhandlungstagen vergangene Woche kamen zahlreiche grobe Unstimmigkeiten in der Beweisführung der Anklage zur Sprache, unter anderem in Bezug auf eine vermutlich von den FSB-Ermittlern erstellte oder manipulierte Datei mit Textfragmenten, die den Nachweis für eine terroristische Zielsetzung erbringen soll. Bis zum 23. Februar will das Gericht vorliegende Gutachten prüfen.
ute weinmann
Fotos uw
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