Der Fall des Ölpreises belastet den russischen Staatshaushalt. Die Bevölkerung versorgt sich in der Coronakrise derweil mit Bargeld.
An schlechten Nachrichten herrscht in Russland derzeit kein Mangel. Die Sars-CoV-2-Infektionsrate steigt dort weltweit am schnellsten, auch wenn das Land nach absoluten Zahlen mit 52 736 diagnostizierten Fällen bislang nur auf Platz zehn liegt. Über die Hälfte davon, nämlich 29 433, wurden am Dienstag in Moskau gemeldet. Doch der Fall des Ölpreises ruft fast mehr Besorgnis hervor; davon hängt ab, wie stark der Staatshaushalt in absehbarer Zeit belastet wird und wie schnell die Reserven dahinschmelzen, die die zu erwartende Rezession abfedern sollen. Die krisenerprobte russische Bevölkerung hegt jedenfalls wenig Vertrauen in die Fähigkeiten der politischen Führung. Nach Angaben der Wirtschaftsnachrichtenagentur Bloomberg übersteigen bei russischen Banken die Bargeldabhebungen seit Anfang März diejenigen des gesamten Vorjahrs. Auf jeden Auftritt von Präsident Wladimir Putin – mal schickte er die Bevölkerung in Zwangsurlaub, mal verlängerte er diesen – folgte ein Ansturm auf Geldautomaten.
«Geschlossen! Für immer…». Foto uw
Auch wenn die russische Führung mittlerweile einige Hilfsprogramme auf den Weg gebracht, die Liste besonders von der Coronakrise betroffener Branchen erweitert und Steuererleichterungen versprochen hat, herrscht Pessimismus vor. Löhne und Mieten müssen weiterhin beglichen werden, und spätestens im Mai werden gerade Kleinunternehmen an die Grenzen ihrer Liquidität kommen. Zumal viele aus formalen Gründen nicht von den Förderprogrammen profitieren können.
Stellenweise wirkt Moskau wegen der Ausgangssperren wie ausgestorben. Kleine Bäckereien oder Dönerbuden sind mal geöffnet, mal nicht. Verschwindet von einem Tag auf den anderen das Ladenschild, dann meist wegen Geschäftsaufgabe. Aber manches funktioniert wie gehabt, auch wenn die Vorgaben anders lauten. So sollen Zahnarztpraxen nur noch in Notfällen Patienten annehmen, aber direkte Nachfragen ergeben ein anderes Bild: Jede Behandlung zählt, nur so kommt Geld in die Kasse.
Samsa — gefüllte Teigtaschen nach zentralasiatischem Rezept — werden hier nicht mehr verkauft. Foto uw
Wer Lobbyarbeit in großem Stil betreiben kann, versucht, das Beste für sich herauszuschlagen. So haben Bauunternehmen gegen die verordnete zeitweilige Einstellung laufender Projekte in Moskau Beschwerde eingelegt und sind gehört worden. Putin traf sich mit Vertretern des Bausektors und stellte vorteilhafte Konditionen in Aussicht, um den Wohnungsbau zu stützen. Doch bis Ende April sollen Bauarbeiten eingestellt werden. Hauptsächlich sind Arbeitsmigranten aus Zentralasien im Bausektor beschäftigt, für sie bedeutet das nicht nur Lohnausfälle. Wegen beengter Unterkünfte gehe von ihnen eine unverantwortlich hohe Ansteckungsgefahr aus, lautete die Argumentation von Firmenchefs; einzelne Politiker, etwa Sergej Mitrochin, ein Abgeordneter des Moskauer Stadtparlaments, forderten gar die sofortige Abschiebung betroffener Ausländer.
Auch der Dienstleistungsbereich stützt sich zu großen Teilen auf migrantische Arbeitskräfte. Die meisten Taxifahrer stammen aus ehemaligen Sowjetrepubliken, dasselbe gilt für Kuriere. Unter den außergewöhnlichen Umständen der Selbstisolation, wie es hierzulande heißt, ist der Staat sogar bereit, sie mit polizeiähnlichen Kontrollvollmachten auszustatten. Seit dem 15. April müssen in Moskau für Fahrten mit der Metro, dem Bus, dem Taxi und im eigenen Auto elektronische Passierscheine vorgelegt werden. Taxifahrer sind angehalten, die Genehmigungen ihrer Passagiere zu scannen, obwohl sie dazu weder rechtlich befugt sind noch selbst in die Position einer Überwachungsinstanz gedrängt werden wollen. Die Polizei überprüfte am ersten Geltungstag der Regelung in der Metro alle Passagiere, was zu infektionsträchtigem Gedränge und Menschenaufläufen führte, und auch den Privatverkehr. Das eigens eingerichtete Internetportal brach nach wenigen Stunden zusammen und Bürgermeister Sergej Sobjanin sah sich gezwungen, die Polizeibehörden zur Zurückhaltung aufzurufen.
Behörden und Polizei sind darauf ausgerichtet, zu kontrollieren und Strafen zu verhängen. Umgerechnet über 620 000 Euro an Bußgeldern haben sie bereits wegen Verstößen gegen die Selbstisolierung erhoben. Zahlen müssen auch Aktivisten der Gruppe »Food Not Bombs«, die Mitte April bei einer sonntäglichen Obdachlosenspeisung von den Ordnungshütern unterbrochen wurden, obwohl sie vorbildlich Handschuhe, Masken und Antiseptika verwendeten. Grundsätzlich löst soziales Engagement, obwohl es jetzt nötiger ist denn je, bei staatlichen Stellen den Reflex aus, gegenzusteuern. Nur offizielle Initiativen bekommen Unterstützung und einen unlimitierten Passierschein für die Hauptstadt.
Die mit dem Oppositionellen Aleksej Nawalnyj assoziierte Ärzteallianz machte wiederholt auf die katastrophale Unterversorgung von Krankenhäusern mit Masken und Schutzkleidung aufmerksam. Deren Leiterin Anastasia Wasiljewa wurde kurzzeitig festgenommen, als sie mit Spendengeldern gekaufte Masken an Kliniken übergeben wollte. Andere durch missliebige Aktivitäten aufgefallene Personen erhielten Vorladungen der Staatsanwaltschaft. Wer bereits eine Haftstrafe abbüßt, darf sich nicht einmal Hoffnungen auf eine Amnestie zum Tag des Sieges am 9. Mai machen. Die Parade ist verschoben worden, Haftentlassungen sind trotz der Pandemie nicht vorgesehen. 15 000 Soldaten wurden dem Verteidigungsministerium zufolge nach Proben für die Parade auf ihre Basen zurückgeschickt und dort unter zweiwöchige Quarantäne gestellt.
ute weinmann