Anastasija Wassiljewa ist eine Frau der Tat, die sich nicht so schnell einschüchtern lässt. Auch Festnahmen bringen sie nicht aus dem Konzept. Das gehört im heutigen Russland zu den unerlässlichen Voraussetzungen, wenn es darum geht, Missstände nicht nur verbal anzuprangern, sondern auch real gegen sie vorzugehen. Vor zwei Jahren hat die schlagfertige Mittdreißigerin die unabhängige Gewerkschaftsorganisation Ärzteallianz ins Leben gerufen, die inzwischen rund 1 000 Mitglieder zählt. Die Ärzteallianz verhinderte die Schließung einer Rettungsstelle in dem zwischen Moskau und St. Petersburg gelegenen Ort Okulowka und will künftig ausgebildete Ärztinnen und Ärzte weiterqualifizieren.
Als Augenärztin in einer Moskauer Klinik erlebte Wassiljewa zunächst eine Gesundheitsreform, die unter dem Oberbegriff »Optimierung« zu horrenden Einsparungen, der Schließung von Krankenhäusern, Entlassungen und steigender Arbeitsbelastung des verbliebenen medizinischen Personals geführt hat. Aktiv wurde sie erst, als ihre Mutter von den Kürzungen betroffen war. Von der gut vernetzten Medizinergewerkschaft Dejstwije (Aktion) erhielt Wassiljewa wertvolle Unterstützung, Geld für Anwaltskosten stellte aber nur der bekannte Oppositionelle Aleksej Nawalnyj zur Verfügung, der nach einem Angriff kurzzeitig bei ihr in Behandlung gewesen war. Seither gilt sie fälschlicherweise als seine Anhängerin. Eher handelt es sich jedoch um ein Zweckbündnis, das sie auch mit dem Staat eingehen würde, würde dieser sich nicht gegen jegliche unerwünschte Einmischung in seine Angelegenheit zur Wehr setzen. Statt sich Wassiljewas Umtriebigkeit zu Nutzen zu machen, läuft gegen sie eine regelrechte Diskreditierungskampagne.
Seit Beginn der Pandemie in Russland ist Wassiljewa unermüdlich damit beschäftigt, Krankenhäuser mit aus Spendenmitteln gekauften Masken und Schutzkleidung zu versorgen. Deren Leitungen sind angehalten, keine Hilfe anzunehmen, weshalb die Ärzteallianz ihre Lieferungen bisweilen unter Umgehung aller offiziellen Kanäle zustellt. In Okulowka nahm die Polizei die Ärztin kurzerhand fest, Mitarbeitende des lokalen Krankenhauses holten den für sie bestimmten Mundschutz auf der Wache ab.
ute weinmann