Vergangene Woche wurde der aussichtsreichste Herausforderer des belarussischen Präsidenten Alexander Lukaschenko festgenommen. Dagegen gab es Proteste.
Noch vor zwei Monaten trat Alexander Lukaschenko gewohnt souverän auf. Schließlich bekleidet der 65jährige den Posten des belarussischen Präsidenten schon seit 1994, was ihn zu einem der dienstältesten Staatsoberhäupter weltweit macht. Im kommenden August sind alle Wahlberechtigten des knapp zehn Millionen Einwohnerinnen und Einwohner zählenden Landes aufgefordert, ihm ihre Zustimmung für seine sechste Amtszeit auszusprechen. Faire und anständige Wahlen hatte der für seine endlosen Monologe bekannte Lukaschenko großspurig versprochen. Aber je näher der Wahltermin rückt, desto mehr Nervosität legt er an den Tag. Egal wie die Stimmenverteilung am Ende auf dem Papier ausfällt — sein Stern beginnt allmählich zu sinken.
Am 19. Juni, dem letztmöglichen Datum, an dem die für eine Präsidentschaftskandidatur geforderten Unterschriften zur Prüfung eingereicht werden konnten, erklärte Lukaschenko, ein großangelegter Plan zur Destabilisierung der politischen Verhältnisse sei durch entsprechende Maßnahmen verhindert worden. Sprich, einen Umsturz, wie ihn 2014 die Ukraine erlebt hat, werde es mit ihm nicht geben. Am Vortag war es in der belarussischen Hauptstadt Minsk zu spontanen Protesten gegen die Festnahme von Viktor Babariko gekommen. Er gilt als aussichtsreichster Herausforderer Lukaschenkos. Gegen Babariko und dessen Sohn Eduard wurde mittlerweile Anklage erhoben. Einzelheiten dazu hält die ermittelnde Staatssicherheitsbehörde KGB unter Verschluss.
Wie es um die Verteilung der Wählergunst steht, lässt sich nicht eindeutig feststellen, denn nicht genehmigte Umfragen stehen in Belarus unter Strafe. Staatliche Medien halten sich vor der Wahl mit ihren sonst immer recht optimistischen Prognosen auffallend zurück. Einige nichtstaatliche Oppositionsmedien befragten ihre Leserinnen und Leser und veröffentlichten sicherlich nicht repräsentative, für Lukaschenko aber wenig schmeichelhafte Ergebnisse, die diesem den Spitznamen »Drei-Prozent-Sascha« einbrachten. Seither sind Presse und Internetportale strengstens angehalten, derlei eigenmächtige Umtriebe zu unterlassen.
Aber es reicht der Blick auf die Straße, um den Stimmungswandel in der belarussischen Gesellschaft wahrzunehmen – und zwar nicht nur in Minsk, sondern auch in vielen kleineren Städten wie Gomel, Pinsk oder Bobruisk. Das ist tatsächlich ein Novum. Vielerorts kam es am Freitag vergangener Woche unerwartet zu gutbesuchten Protestkundgebungen, bei denen Ordnungskräfte auch Journalistinnen und Journalisten festnahmen. Bereits vor Wochen, direkt nach dem Beginn der obligatorischen Unterschriftensammlung für die Kandidaten, bildeten sich landesweit lange Menschenschlangen, bei denen diszipliniert der aufgrund der Covid-19-Pandemie zu wahrende Abstand eingehalten wurde.
Ein Neuling in der belarussischen Politik fiel dabei besonders auf. Sergej Tichanowskij betreibt ein populäres Videoblog und wird oft mit dem russischen Oppositionspolitiker Aleksej Nawalnyj verglichen. Seit Ende Mai sitzt er in Untersuchungshaft, weil er in der Stadt Grodno beim Sammeln von Unterschriften für die Kandidatur seiner Frau Swetlana Gewalt gegen einen Polizisten ausgeübt haben soll. Oppositionelle entlarvten die Auseinandersetzung schnell als von Polizisten aus Minsk und einer nicht näher identifizierten Frau provoziertes Gerangel. Tichanowskijs Antrag auf die, so der offizielle Jargon, »Anwartschaft zur Teilnahme an den Präsidentschaftswahlen» wurde schon vorher abgelehnt mit der Begründung, dass er innerhalb der kurzen Frist zur Einreichung erster Unterlagen einen administrativem Arrest verbüßt hatte.
Weil ihr Mann an dieser bürokratischen Hürde scheiterte, führt Swetlana Tichanowskij die Kampagne fort. Eine Frau an der Staatsspitze kann sich Lukaschenko indes gar nicht vorstellen. Sein Kommentar, die Verfassung von Belarus sei nicht auf Frauen in dem Amt ausgelegt, sorgte für viel Empörung. Das veranlasste ihn zu der Klarstellung, die Präsidentschaft stelle seiner Ansicht nach schon für Männer eine enorme Belastung dar.
Ernstzunehmende Konkurrenz erhält Lukaschenko dieses Mal nicht von den völlig an den Rand gedrängten Oppositionsparteien, sondern aus dem Finanzsektor und dem Establishment. Viktor Babariko war langjähriger Vorstandsvorsitzender der Belgazprombank. Nachdem Mitte Mai gegen einige von deren führenden Managern Strafverfahren eingeleitet worden waren, gab er seinen Posten auf. Die Bank gehört zur Struktur des russischen Energiekonzerns Gazprom, so dass das Vorgehen gegen die Manager auch als Versuch gewertet werden kann, Russland vorzuführen. Denn wenn Lukaschenko von äußerer Einmischung spricht, dann meint er meistens den östlichen Nachbarn. Babariko hat angekündigt, sollte es im Verlauf der Wahlen zu Massenprotesten kommen, werde er diese unterstützen.
Im Rennen und in Freiheit bleibt vorerst Walerij Zepkalo. 1994 unterstützte er Lukaschenko, machte später Karriere im diplomatischen Dienst und wurde stellvertretender Außenminister. Doch er gehört zur Generation der Erneuerer; auf seine Initiative geht die Gründung des »belarussischen Silicon Valley» zurück, einer Art Sonderwirtschaftszone für die IT-Branche. Babariko und Zepkalo repräsentieren in gewisser Weise den wachsenden Teil des Establishments, der Lukaschenkos Kurs nicht mehr mittragen will und Ansprüche auf politische Mitsprache anmeldet, ohne einen radikalen Bruch mit den geltenden Gepflogenheiten zu wagen. Offenbar war sich Lukaschenko selbst des Rückhalts in seiner Regierung nicht mehr völlig sicher, jedenfalls löste er diese Anfang Juni auf.
Wahrscheinlich ist es zu früh, von einer Erosion des Herrschaftsapparats zu sprechen, aber erste Anzeichen dafür gibt es seit geraumer Zeit. Die Pandemie dürfte diesen Prozess beschleunigt haben. In der städtischen Bevölkerung herrscht deutliche Unzufriedenheit über Lukaschenkos eigenwillige Taktik, die Gefahr der Pandemie leichtfertig herunterzuspielen. Und wer sonst im Ausland seinen Lebensunterhalt bestreitet, sitzt nun in Belarus ohne Einkommen fest. Unter der Krise leidet nicht zuletzt das beim Staat angestellte und von ihm bezahlte medizinische Personal, das sich früher durch Loyalität zu Lukaschenko auszeichnete; diese schwindet nun.
ute weinmann