Aktivist Witalij Blaschewitsch über die Proteste im russischen Chabarowsk und das Verhältnis zu Moskau
Nach der Festnahme des Chabarowsker Gouverneurs Sergej Furgal demonstrierten am Samstag in der Stadt bis zu 35 000 Menschen. Auch Sie waren dabei. Seither reißen die Proteste nicht ab, die Polizei schreitet jedoch nicht ein. Wie kommt das?
Nicht nur in Chabarowsk gehen die Menschen auf die Straße. Inzwischen erreichen uns Nachrichten aus dem ganzen Gebiet — aus Komsomolsk am Amur, aus kleinen Ortschaften wie Wjasemskij oder Dörfern wie Perejaslawka oder Ochotsk. Überall bietet sich das gleiche Bild wie in Chabarowsk: Protestaktionen finden ohne Genehmigung statt. Die Leute verabreden sich und gehen entlang einer selbstgewählten Route. Das gab es noch nie! In Chabarowks wurden zwar auch früher Kundgebungen organisiert, aber jetzt finden sie vielerorts zum allerersten Mal statt. Die Polizei und Sondereinheiten zeigen bestenfalls Präsenz, bleiben aber untätig. Der Verwaltungsapparat signalisiert den Protestierenden, dass er mit ihnen auf einer Seite der Barrikaden stehe. Selbst der Bürgermeister betont, dass er sich mit Furgal gut verstand.
Setzen die Menschen sich wirklich für ihren Gouverneur ein, dem eine kriminelle Vergangenheit nachgesagt wird und der jetzt wegen vor über 15 Jahren begangenen Auftragsmorden in Moskau in Untersuchungshaft sitzt?
Furgal genießt hier keinen schlechten Ruf, deshalb glaubt auch niemand den Anschuldigungen. Viele finden, dass er, selbst wenn dem so wäre, vor seiner politischen Karriere für die Liberaldemokratische Partei (LDPR) in der Staatsduma gebührend hätte überprüft werden müssen. Das Verhältnis zu Moskau war hier immer schon angespannt, die demonstrative Verhaftung von Furgal hat die Leute in Rage versetzt. In den zwei Jahren seiner Amtszeit ließ er populistische Maßnahmen umsetzen und kürzte beispielsweise Abgeordneten- und Beamtengehälter. Das kam gut an. Außerdem wirkt er moderat, weil er keine skandalträchtige Rhetorik anwendet, wie sie für LDPR-Chef Wladimir Schirinowskij typisch ist.
Wofür oder wogegen protestieren die Menschen dann?
»Wir unterstützen diesen Putin nicht!« So lautet hier die Botschaft. Ganz sicher handelt es sich bei den Protesten nicht um eine Solidaritätsbekundung für die LDPR. Das ist kein Thema. Eigentlich gibt es hier die LDPR als feste Struktur gar nicht, sie ist Furgals politischer Apparat. Die Menschen haben bei den vergangenen Wahlen für die LDPR und Furgal gestimmt, weil es die einzige legale Form ist, seinen Protest gegen Putins Abgesandte und die Partei Einiges Russland kundzutun. Seit vergangenem Jahr hat die LDPR im Gebietsparlament eine Mehrheit, aber längst nicht alle Abgeordneten stehen der Partei nahe. Oft sind das einfach nur in unterschiedlichen Bereichen aktive Personen, die dank Furgal auf einen Listenplatz gerutscht sind. Enttäuschungen gab es zwar, als das Parlament die Verfassungsänderungen akzeptierte, die in der Bevölkerung auf große Widerstände trafen. Aber es ist eine gewählte Institution und die Leute sind bereit, die Konsequenzen ihres Handelns zu tragen.
Wie steht es denn um die Partei Einiges Russland in Chabarowsk?
Einiges Russland existiert hier de facto nicht mehr. Selbst der ehemalige Gouverneur Wjatscheslaw Schport distanzierte sich von der Partei. Die Moskauer Parteien sind reine Formsache und bringen nichts als vor den Wahlen erstellte Parteilisten hervor, gleichzeitig fehlt eine politische Vertretung in Form einer Lokalpartei. Auch gibt es hier keine eindeutig rechten oder linken Strukturen, selbst wenn man davon ausgeht, dass die LDPR eine rechte Partei ist. Bei den jetzigen Protesten haben wir es mit einer Art gesamtgesellschaftlichem Konsens zu tun, der Menschen aller Altersgruppe unabhängig von ihren politischen Ansichten auf die Straße treibt.
In Moskau wird gerne behauptet, in den entlegenen Regionen im Osten seien separatistische Tendenzen populär. Ist dem so?
In der Region Chabarowsk gibt es keinen ausgeprägten Separatismus. Ich hoffe, die Leute lernen jetzt, dass man nicht aufgeben darf. Sie fürchten sich davor, ihre sozialen und ökonomischen Rechte durchzusetzen aus Angst vor staatlichen Repressionen. Die Einschränkung der Versammlungsfreiheit und viele Verbote gelten ja landesweit und werden hier mit der Moskauer Zentralmacht gleichgesetzt. Wir wollen uns aber nicht abspalten, sondern eigenständig entscheiden. Das macht ein normales föderales System aus.
Witalij Blaschewitsch aus Chabarowsk ist Dozent für russische Sprache. Zu Perestroikazeiten wurde er Mitglied der »Konföderation der Anarchosyndikalisten« und ordnet sich bis heute als links ein.
ute weinmann