Die Proteste und Streiks in Belarus halten an. Präsident Lukaschenko erhöht den Druck auf die Opposition.
Eine mögliche Invasion an der Westgrenze, Faschisten vor der eigenen Haustür – es sind Schreckbilder einer vergangenen Zeit, die der belarussische Präsident Alexander Lukaschenko und sein Machtapparat bemühen. Die belarussischen Streitkräfte befinden sich seit vergangener Woche in Kampfbereitschaft. Verteidigungsminister Viktor Chrenin warnt vor bewaffneten Aufständen aufgebrachter Massen unter Anleitung westlicher Geheimdienste und einem Nato-Angriff. Zu seinen Prioritäten zählt zudem die militärische Sicherung von Gedenkstätten an den Zweiten Weltkrieg. Würden in deren Umkreis Ruhe und Ordnung gestört, so Chrenin, bekämen es die Protestierenden nicht mehr mit der Polizei, sondern mit der Armee zu tun.
Zunächst aber musste die belarussische Seite eine Protestnote aus Litauen einstecken. Am Sonntag waren nach einer Demonstration in der grenznahen litauischen Hauptstadt Vilnius in Weiß und Rot gehaltene Ballons – die Farben der von der belarussischen Opposition genutzten ehemaligen Nationalfahne ihres Landes nach der Auflösung der Sowjetunion – Richtung Grenze geflogen. Belarus schickte daraufhin einen Kampfhubschrauber los und verletzte, wie es in der Note heißt, litauisches Hoheitsgebiet. Der Zwischenfall ist an sich harmlos, birgt jedoch ein nicht zu unterschätzendes Gefahrenpotential. Mit jedem weiteren Tag, den Lukaschenko im Präsidentensessel als angeblicher Sieger einer Wahl verbringt, aus der er als Verlierer hervorging, wird der Autokrat unberechenbarer. Allzu erratisches Verhalten jedoch könnte ihn früher oder später auch den politisch und ökonomisch für seinen Machterhalt unverzichtbaren Rückhalt aus Russland kosten. Seine Behauptungen, es dauere nicht mehr lange, bis das aus dem Ausland angezettelte Tohuwabohu zu Ende sei, stehen in eklatantem Widerspruch zu den anhaltenden Protesten im Land.
Am Sonntag beteiligten sich allein in der Haupstadt Minsk bis zu 150 000 Menschen an einem Protestmarsch; die belarussischen Polizeibehörden zählten lediglich 20 000. Die lauthals gegen Lukaschenko vorgebrachten Slogans »Geh’« und »Gekündigt« waren nicht zu überhören. Nach der Demonstration präsentierte sich Lukaschenko per Video beim Flug zu seiner Residenz im Hubschrauber und beim Aussteigen. Ganz in Schwarz, mit schusssicherer Weste und Gewehr ohne Ladestreifen marschierte er in Begleitung seines 15jährigen Sohnes Kolja über den Landeplatz und dankte den ihn vor leeren Straßen abschirmenden Sicherheitskräften.
Bis dahin wetterte Lukaschenko auf Kundgebungen vor seiner Anhängerschaft gegen alle, die sich ihm entgegenstellen. Den Staatsapparat hält er dazu an, Konsequenzen zu ziehen. Als eine Gruppe, an der ein Exempel statuiert werden soll, identifizierte er Lehrkräfte. Wer sich nicht an die Prinzipien der Staatsideologie halte, habe an einer Schule nichts zu suchen.
Lukaschenko erhöht auch den Druck auf streikende Arbeiterinnen und Arbeiter in staatlichen Betrieben. Wer nicht arbeiten wolle, solle ab Montag ausgesperrt werden, sagte er am Samstag in Grodno. Dies lässt sich auch als Ansage lesen, Manager von Großbetrieben zu entlassen, die einer aus Sicht Lukaschenkos zu weichen Linie im Umgang mit streikenden Beschäftigten gefolgt waren. Arbeitsverweigerer könnten zudem leicht durch arbeitslose Bergleute aus der Ukraine ersetzt werden, behauptete er. Michail Wolynez, der Vorsitzende der unabhängigen ukrainischen Bergarbeitergewerkschaft, dementierte, dass sich dort Streikbrecher rekrutieren ließen. Der aus Minsk stammende Hauptaktionär und Vorstandsvorsitzende des russischen Düngemittelherstellers Uralchem, Dmitrij Masepin, könnte gegebenenfalls Arbeitskräfte zur Verfügung stellen – zumindest für den belarussischen Düngemittelhersteller Belaruskalij mit seinen über 16 000 Beschäftigten. Masepin rief die belarussische Regierung zum Dialog mit den Protestierenden auf. Von Russland forderte er, sich an diesem zu beteiligen.
Obwohl es am Montag nicht zur generellen Aussperrung von Arbeiterinnen und Arbeitern kam, ist die Situation in den bestreikten Betrieben nicht rosig. Trotz zahlreicher Aufrufe gelang kein Generalstreik. Nach einer Reihe enthusiastischer spontaner Streiks stieß die Bewegung schnell an Grenzen. Die Belegschaft des Bauunternehmens Zhilstroj in Grodno beispielsweise hatte für Freitag voriger Woche die komplette Arbeitsniederlegung angekündigt, aber am Morgen des besagten Tages traten dennoch zahlreiche Beschäftigte zum Schichtbeginn an.
Von ihrem ambitionierten Ziel, einen kompletten Produktionsstillstand zu erreichen, sind die Streikenden weiter entfernt als noch vor einer Woche. Gestreikt wird oft nur in Teilzeit, es fanden Aktionen auf den Werksgeländen oder davor statt, aber nach deren Ende kehrten viele an ihren Arbeitsplatz zurück. Das Management tolerierte diese Praxis zu Beginn, nun aber sehen sich die Führungskräfte selbst bedroht vom Regime. Bislang wurden allerdings nur die aktivsten Streikteilnehmer festgenommen, darunter Jewgenij Bochwalow, der Vorsitzende des Streikkomitees bei der Minsker Lkw-Fabrik MAZ, und Anatolij Bokun, der stellvertretende Vorsitzende des Streikkomitees bei Belaruskalij. Letzterer wurde gegen eine Geldbuße wieder freigelassen. Dmitrij Kudelewitsch, der Vorsitzende des Komitees bei Belaruskalij, verschwand schon Tage vorher. Er wurde in ein Gebäude der Staatssicherheitsbehörde KGB gebracht; von dort floh er durch ein Toilettenfenster. Vermutlich hält er sich derzeit in der Ukraine auf.
Durch die Belegschaften geht ein Riss, der nicht unbedingt auf politische Differenzen zurückgeht. Viele haben Kredite abzuzahlen und wollen kein Risiko eingehen. Darüber hinaus ist gewerkschaftliche Arbeit in einem System ohnehin schwierig, das unbedingte Loyalität zum Arbeitgeber erwartet. Das Streikkomitee von Belaruskalij versucht der Situation gerecht zu werden und rief am Montag alle Beschäftigten, die nicht bereit sind zu streiken, zum Dienst nach Vorschrift auf.
Dem Präsidium des Anfang voriger Woche gegründeten Koordinationsrats der Opposition, der einen Machttransfer begleiten soll, gehört einer der führenden Vertreter der Streikenden an – Sergej Dylewskij von der Minsker Traktorenfabrik. Am Montag wurden er und seine Ratskollegin Olga Kowalkowa von der Christdemokratischen Partei, die als Vertrauensperson der vermutlichen Wahlsiegerin Swetlana Tichanowskaja fungiert, festgenommen. Ihnen wird vorgeworfen, zu illegalen Streiks aufgerufen zu haben. Beide wurde zu zehn Tagen Haft verurteilt. Zeugenbefragungen von Ratsmitgliedern fanden bereits im Rahmen von Strafermittlungen wegen öffentlicher Aufrufe zur Machtübernahme statt. Die Ermittlungen waren nach Gründung des Rates eingeleitet worden.
Im Koordinationsrat dominieren bürgerlich-liberale Kräfte. Zum jetzigen Zeitpunkt finden sich mit der angestrebten Demokratisierung des Landes und der Nichtanerkennung des Wahlsiegs von Lukaschenko zwar grundlegende Gemeinsamkeiten, aber insbesondere wirtschaftspolitisch sind Konflikte programmiert. Es steht außer Frage, dass die Massenproteste ohne Streikbewegung nicht dieselbe Kraft entwickelt hätten; doch die Arbeiter und Arbeiterinnen könnten verlieren, selbst wenn Lukaschenko irgendwann geht.
ute weinmann