Der russische Präsident Putin hat zugesagt, der belarussischen Regierung nötigenfalls Reservisten für einen Einsatz in dem Nachbarland bereitzustellen. Dass es dazu kommt, ist aber unwahrscheinlich.
Alexander Lukaschenko spricht nicht mehr mit allen Anrufern aus dem Ausland. Allerdings wollen mit ihm auch nicht alle reden. Die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel bemühte sich vergeblich um ein Gespräch mit dem Präsidenten von Belarus, die Regierungen der baltischen Staaten boten an, mit einigen hochrangigen belarussischen Staatsvertretern zu sprechen. Ein Treffen mit Lukaschenko sei nicht geplant gewesen, sagte der estnische Ministerpräsident Jüri Ratas. Die Ukraine stellte vorige Woche alle diplomatischen Kontakte mit Belarus ein. Sie will vorübergehend nur Flüchtlinge aus dem Land einreisen lassen.
Über drei Wochen liegen die Präsidentschaftswahlen in Belarus zurück, genauso lange dauern die Massenproteste gegen Lukaschenkos Verbleib im Präsidentenamt nach dessen angeblichem Wahlsieg an. Die Europäische Union hat das offizielle Wahlergebnis nicht anerkannt. Am Freitag voriger Woche einigten sich die EU-Außenministerinnen und -minister zwar auf Sanktionen gegen ranghohe Unterstützerinnen und Unterstützer Lukaschenkos, doch wünschen sie weiterhin auch den Dialog.
Offenbar gibt es unterschiedliche Auffassungen darüber, wie und mit wem dieser geführt werden soll. Selbst gutgemeinte Vorschläge könnten nach hinten losgehen. So hat die EU-Kommission etwa in Aussicht gestellt, die belarussische Zivilgesellschaft und unabhängige Medien mit einer Million Euro zu unterstützen. Nachdem Olivér Várhelyi, der EU-Kommissar für Erweiterung und Europäische Nachbarschaftspolitik, verlautbart hatte, ein Teil dieser Mittel könnte vom Koordinationsrat der Opposition verwaltet werden, sah sich der Koordinierungsrat der belarussischen Opposition genötigt, derart kompromittierende Überlegungen zurückzuweisen. »Solche Erklärungen der Europäischen Union spielen Lukaschenko in die Hände«, sagte Maria Kolesnikowa, Mitglied im Präsidium des Koordinierungsrats, dem russischen Radiosender Echo Moskwy.
Anstelle der von Lukaschenko immer wieder ins Spiel gebrachten Einmischung des Westens in innere Angelegenheiten, übernimmt Russland nach wochenlanger Zurückhaltung nun diesen Part. Über das weitere Vorgehen wollen Lukaschenko und sein russischer Amtskollege Wladimir Putin demnächst in Moskau verhandeln. Diesen Donnerstag verhandeln beide Länder über die Refinanzierung von einer Milliarde US-Dollar an belarussischen Schulden. Da sich die ökonomische Krise infolge der Streiks und der allgemeinen Spannungen verschärft, wäre das nicht mehr als eine kurzfristige Nothilfe. Falls Russland jemals ernsthaft davon ausgegangen sein sollte, dass Belarus seine Schulden zurückzahlt, dürften die Erwartungen inzwischen geschwunden sein. Immerhin handelt es sich um fast acht Milliarden Dollar sowie eine Kreditvereinbarung über rund zehn Milliarden Dollar für den Bau des ersten belarussischen Atomkraftwerks.
Im Kern geht es jedoch um die Frage, ob Russland einen Militäreinsatz in Erwägung zieht, um den belarussischen Diktator zu unterstützen. Vorige Woche sagte Putin dem Fernsehsender Rossija 1, Lukaschenko habe ihn gebeten, Reservisten aus dem Sicherheitsapparat bereitzustellen, die gegebenenfalls in Belarus zum Einsatz kommen sollen. Putin sagte unter Verweis auf gegenseitige Verpflichtungen zu. Diese würden aber erst dann greifen, wenn die Situation außer Kontrolle geraten sollte, etwa durch Plünderungen, in Brand gesetzte Fahrzeuge und die Besetzung von Verwaltungsgebäuden. Solche Vorgänge lassen sich in vielen Ländern selbst bei kleineren riots beobachten, nicht aber in Belarus – jedenfalls bislang. Putin wird die von ihm in Aussicht gestellte Hilfe daher wahrscheinlich nicht gewähren. Seiner Ansicht nach haben die belarussischen Einsatzkräfte äußerste Zurückhaltung geübt. Hunderte durch brutale Polizeigewalt teils erheblich Verletzte und die Angehörigen von mindestens vier Todesopfern dürften dies anders sehen.
Putins Drohgebärde setzt Ängste vor Schreckensszenarien frei und soll auf die Opposition eine demoralisierende Wirkung auswirken. Trotzdem setzten sich die täglichen Protestaktionen unvermindert fort. Prompt gingen die belarussischen Sicherheitskräfte wieder zum Angriff über und nahmen bei Demonstrationen am Freitag und Sonntag zahlreiche Menschen fest, darunter auch Dutzende Journalistinnen und Journalisten. Betroffen waren auch ausländische Medien, darunter die ARD und das ZDF. Nur der Marsch Tausender Frauen, der am Samstag in der Hauptstadt Minsk stattfand, ging ohne Zwischenfälle über die Bühne – vielleicht weil Lukaschenko trotz seiner mutmaßlichen Wahlniederlage gegen seine Herausforderin Swetlana Tichanowskaja den weiblichen Widerstand gegen seine Alleinherrschaft immer noch unterschätzt. Oder aber weil er fürchtet, Bilder von Polizeigewalt gegen Frauen könnten die verbliebene Loyalität zu ihm verringern.
Das Kräftemessen zwischen Opposition und Staatsapparat ist in eine Phase getreten, in der Ausdauer gefragt ist. Ohne Unterstützung aus Russland wird Lukaschenko sich nicht dauerhaft an der Macht halten können. Seine Abhängigkeit von Russland wächst. Das setzt seinen Bemühungen der vergangenen zehn Jahre ein Ende, die belarussische Wirtschaft zu diversifizieren und sich so von Russlands Einfluss zu lösen. Die einzige stetig wachsende Branche, der IT-Sektor, der bislang von Sonderkonditionen profitiert, könnte seine privilegierte Stellung verlieren, falls der Staatsapparat sich durchsetzt. Bereits jetzt wird eine Welle der Abwanderung von Fachkräften prophezeit. Viele der über 60 000 Beschäftigten in der IT-Branche nehmen an den Protesten teil. Der Gründer des Software-Unternehmens Pandadoc, Mikita Mikado, bietet Einsatzkräften, die sich Anweisungen widersetzen, finanzielle Unterstützung an. Derlei dürfte Lukaschenko ein Dorn im Auge sein. Einsatzkräfte, die ihre Verträge vor Ablauf von fünf Jahren kündigen, müssen dem Staat eine hohe Abfindung zahlen.
Man muss Putin nicht alles glauben. Es gibt keine rationalen Gründe, die die russische Regierung dazu bewegen könnten, ihre Truppen in Belarus einzusetzen. Russland könnte dabei nur verlieren. Lukaschenko an der Macht zu halten, ist es nicht wert, neue Sanktionen zu riskieren oder die belarussische Bevölkerung gegen Russland aufzubringen. Neuwahlen könnten einen Machttransfer ermöglichen, der auch im Sinne der russischen Regierung wäre. Putin und sein Pressesprecher Dmitrij Peskow sandten bereits erste vorsichtige Signale aus. Peskow nahm nach anfänglicher demonstrativer Ignoranz gegenüber der belarussischen Opposition wohlwollend zur Kenntnis, dass der Koordinierungsrat nicht mehr klar auf Distanz zu Russland geht. Putin sagte im erwähnten Interview mit Rossija 1, den Bedürfnissen der Menschen auf der Straße müsse Rechnung getragen werden. Der belarussische Präsident habe grundsätzliche Bereitschaft zu Neuwahlen gezeigt.
ute weinmann