Anna Voronkova (39) ist Übersetzerin und Dolmetscherin aus dem Finnischen und Spanischen. Während der Corona-Pandemie sind die meisten Veranstaltungen ausgefallen, Voronkovas Arbeit wurde nicht mehr gebraucht – sie verlor ihren Job. Wegen ihrer Spanisch-Sprachkenntnisse kam sie mit in Moskau gestrandeten Kubanerinnen und Kubanern in Kontakt, denen sie half, Dokumente zu beantragen, Essen und Kleidung zu bekommen. Um doch ein bisschen Geld zu verdienen, trägt sie nun Telegramme für die Post aus.
Vom Kreml sind es gerade mal fünf Minuten zu Fuß bis zur in einem verwinkelten Hinterhof gut versteckten Postfiliale, wo sich Anna Voronkova mit zwei Kollegen einen Raum teilt. Da der Zutritt für Außenstehende verboten ist, trinken wir frischen Ayran im benachbarten türkischen Café. Das Gespräch hat noch gar nicht richtig begonnen, als Voronkova über das Handy die Bitte einer Kubanerin erreicht, ihr ein wenig Geld für ein Metroticket zu leihen. Dann sagt sie: »Postzusteller mit einem Gehalt von knapp 22 000 Rubel gehen eigentlich nicht ins Café …«
Das sind etwa 250 Euro, und die Lebenshaltungskosten in Moskau sind ähnlich hoch wie in Deutschland. Wenn Sie sich das nicht leisten können — warum sitzen wir dann hier?
Für mich ist das eine Brücke zu meinem Leben vor der Pandemie und vor meiner Zeit als Postangestellte.
Vor der Pandemie waren Sie Übersetzerin und Dolmetscherin. Warum haben Sie angefangen, ausgerechnet bei der Post zu arbeiten?
Das ist meine Therapie. Es hilft mir, über meine persönliche »kubanische Krise« hinwegzukommen. Am 22. April war für mich die Quarantänezeit vorbei. Ich habe an dem Tag erfahren, dass in Moskau 90 Kubanerinnen und Kubaner festsitzen und teilweise Hunger leiden, weil ihre letzten Ersparnisse für ihren Lebensunterhalt draufgegangen sind. Anfangs gab es Unterstützung durch eine Stiftung, und über Facebook-Aufrufe kamen Spenden, sogar aus Sibirien. Auch ein vietnamesischer Freund aus Berlin überwies regelmäßig Geld.
Wie sind die Kubaner denn an Sie geraten — oder umgekehrt?
Zufällig. Eine Freundin aus jener Stiftung bat mich, in lateinischen Buchstaben verfasste Passdaten in kyrillische Schrift zu übertragen. Als ich gesehen habe, dass es sich um kubanische Pässe handelt, habe ich gleich gedacht, dass ich wegen meiner Spanisch-Sprachkenntnisse mehr tun kann als nur das. Die Geschichten dieser Menschen lassen mich nicht mehr los.
Im April galten in Moskau wegen hoher Corona-Infektionszahlen strenge Einschränkungen der Bewegungsfreiheit. Transportmittel durfte man nur mit elektronischem Passierschein nutzen.
Genau. Deshalb habe ich diese Passierscheine für die Kubaner beantragt. Ohne Russischkenntnisse und russische Dokumente war es unmöglich, sie zu bekommen. Als ob es hier keine Ausländer gäbe. Über die Stiftung habe ich außerdem Lebensmittel gekauft und an Kubaner verteilt. Über eine Million Arbeitsmigranten aus Zentralasien haben wegen der Pandemie ihre Arbeit verloren und waren auf Hilfe angewiesen. Die Stiftung — eine muslimische — fühlte sich zuständig, war völlig überfordert und hat ihre Unterstützung für die Kubaner wieder eingestellt. Alle anderen Einrichtungen, auch die kirchlichen, waren aufgrund der hohen Nachfrage bereits pleite. Ich habe mich dann auf die Kubaner konzentriert, für die ein seit sieben Jahren hier lebender Kubaner Anlaufstelle ist. Ihn erreichten 800 Anfragen.
Sie haben der Solidarität mit den Kubanern viel Zeit gewidmet und konnten selber kein Geld verdienen, weil alle Veranstaltungen ausfielen, bei denen sie gedolmetscht hätten. Wie ging das?
Anfangs habe ich noch einmal pro Woche Finnischunterricht per Skype gegeben. Das ist richtig anstrengend, wenn währenddessen ein Anruf aus dem Krankenhaus kommt, mit der dringenden Bitte zu übersetzen. Ich habe aufgehört zu arbeiten und nur noch von meinen Ersparnissen gelebt. Allerdings muss ich auch keine Miete zahlen, und mein Mann ging weiter seiner Berufstätigkeit nach, wodurch wir versorgt waren. Geld für die Kubaner haben wir über soziale Netzwerke gesammelt, und mit der Zeit boten immer mehr Menschen ihre Unterstützung an. Darunter Farid, einer der letzten auf Kuba stationierten sowjetischen Soldaten, der sich noch gut daran erinnert, wie die Kubaner einst ihr letztes Brot mit ihm teilten.
Hat sich Ihre Wahrnehmung von Moskau durch diese Erfahrung verändert?
Zuerst haben sich die Straßen geleert, danach habe ich immer mehr merkwürdige Orte wahrgenommen, an denen Migranten leben, zum Beispiel stillgelegte Baustellen. Auf einer davon hausten zwei Kubaner zusammen mit Tadschiken und Kirgisen.
Wie hat es denn die Kubaner dorthin verschlagen?
Durch die Baumafia. Einige hier dauerhaft lebende Kubaner verbreiten Videos, in denen sie behaupten, man könne hier 1000 Dollar beim Bau verdienen. Das ist Nonsens, zumal in Bezug auf Kubaner, die als Touristen ohne Arbeitsgenehmigung einreisen. Aber für Kubaner, die sich ohne Visum in Russland drei Monate aufhalten dürfen, klingt das attraktiv. Sie erhoffen sich, so die Mittel für den Bau eines Hauses in Kuba verdienen zu können.
Hat sich ihre Lage nach Ende der Ausgangsbeschränkungen verändert?
Am 9. Juni wurden die elektronischen Passierscheine abgeschafft. Jetzt können sie sich wieder frei bewegen.
Wann und wie sind Sie schließlich zur Post gekommen?
Als ich im August ein Paket zur Post gebracht habe, habe ich spontan gefragt, ob es dort freie Stellen gibt. Ich fand den Verpackungsvorgang bei der Paketverschickung schon immer faszinierend.
Die russische Post genießt nicht den besten Ruf, und die Bezahlung lässt auch zu wünschen übrig.
Stimmt, aber zu dem Zeitpunkt hatte ich die Nase voll von Leuten — und mir gefiel die Idee, einfach nur Pakete mit Adresszetteln zu bekleben. Dort war zwar nichts frei, aber es hieß, bei der Telegramm-Zustellung würden Leute gebraucht. Da habe ich gleich aufgehorcht.
Mich wundert, dass es überhaupt noch Telegramme gibt. Sie liefern die also wirklich aus?
Ja, an Unternehmen, aber auch Privatpersonen. Manchmal sind es nur fünf Telegramme pro Tag, aber wenn jemand ausfällt, dann steigt die Belastung so enorm, dass es kaum gelingt, sich auf den Beinen zu halten.
Ist es in Corona-Zeiten, wo die Neuinfektionen wieder stark zunehmen, nicht etwas beängstigend, so viel in der Stadt unterwegs zu sein?
Ich musste irgendwie Abstand von der Arbeit mit den Kubanern gewinnen. Ich wollte so wenig wie möglich mit anderen Leuten zu tun haben. Die Telegramme müssen ja nur übergeben werden. Mir gefiel die Arbeit — und ich bin geblieben. Lange halte ich das wegen meiner Knieschmerzen aber nicht aus, nur leider gibt es keine Halbtagsstellen.
Wie bewegen Sie sich denn fort?
Mit dem Fahrrad, das schien mir optimal. So kann ich ein wenig Sport treiben und mich an der frischen Luft bewegen, anstatt dauernd zu Hause am Computer zu sitzen. Da ich den öffentlichen Nahverkehr nicht nutze, bin ich weitgehend vor einer Ansteckung geschützt. Aber es ist auch eine Herausforderung, die angegebenen Adressaten ausfindig zu machen. So hat sich meine Haltung gegenüber der allgegenwärtigen Security verändert. Für mich ist das Wachpersonal inzwischen der Schlüssel zum Ziel, ohne deren Hilfe wäre ich in den Labyrinthen großer Bürokomplexe völlig aufgeschmissen. Im Internet findet sich oft nicht einmal die Telefonnummer einer Firma.
Das klingt anstrengend. Was macht die Arbeit dann so attraktiv?
Ich lerne die Stadt auf eine neue Art und Weise kennen. Das bringt mir richtig Spaß! Ich erhalte Zutritt zu eindrucksvollen Gebäuden, die mit Marmor, Ornamenten oder Holztüren aus vergangenen Epochen geschmückt sind. Dabei fotografiere ich viel. Auch mit Militärangehörigen komme ich in Berührung. Zwar darf ich nur bis zum Kontrollposten vordringen, aber für mich als Philologin und Militarismusgegnerin ist es spannend zu beobachten, wie deren Kommunikation funktioniert. Ein Telegramm birgt etwas Geheimnisvolles, und es stellt sich die Frage, wer überhaupt berechtigt ist, es anzunehmen. Das dauert dann eben, bis die ganz jungen Soldaten jemanden ausfindig machen, dessen Rang es ihm erlaubt, das Telegramm anzunehmen.
Interview: ute weinmann