Als Vaterlandsverräter abgestempelt

Giyas Ibrahimow ist für die aserbaidschanischen Behörden kein Unbekannter. Vor vier Jahren brachte der heute 26-Jährige zusammen mit einem Genossen kritische Graffiti an einem Denkmal des Präsidenten Geidar Alijew an, dem Vater des heutigen Präsidenten Ilham Alijew.

Giyas Ibrahimow stellt sich als einer von wenigen in Aserbaidschan gegen den Krieg in Bergkarabach

Sie haben gemeinsam mit 16 weiteren jungen aserbaidschanischen Linken Ende September angesichts der Kämpfe um die Region Bergkarabach eine Antikriegserklärung unterzeichnet. An wen ist sie gerichtet und mit welcher Reaktion haben Sie gerechnet?

Uns ist bewusst, dass sich solche Konflikte nicht militärisch lösen lassen. Die ausweglos erscheinende Lage kann sich so noch verschlimmern, insbesondere wenn der Krieg von einer Regierung wie der unseren geführt wird, die sich am Rande einer Diktatur bewegt und Menschenrechte mit den Füßen tritt. Selbst wenn man der Ansicht ist, dass ein Teil unseres Landes seit 28 Jahren von armenischen Streitkräften besetzt wird, bedeutet das noch lange nicht, dass ein Krieg uns Nutzen bringt. Wir haben erwartet, dass wir als Vaterlandsverräter abgestempelt werden. Außer einigen wenigen jungen Leuten hat sich unsere gesamte Opposition um die Regierung zusammengescharrt, die sie noch vor Kurzem als diktatorisch bezeichnete.

Hat in Aserbaidschan niemand Ihre Erklärung öffentlich unterstützt?

Nein. Einige Personen haben uns lediglich das Recht zugestanden, unsere Meinung kundzutun und fanden, dass wir deshalb nicht verfolgt werden dürfen.

Halten Sie Kontakt zu Gleichgesinnten in Armenien oder anderen Ländern im Kaukasus?

Wegen des andauernden Konflikts zwischen Armenien und Aserbaidschan gibt es keine Optionen für einen persönlichen Austausch. Einige Leute kenne ich nur über das Internet. Vor einigen Jahren fanden in Tiflis mit Unterstützung von Stiftungen Treffen junger Leute aus Armenien und Aserbaidschan statt, aber letztlich haben sie nichts gebracht. Viele Teilnehmer solcher »Friedenstreffen« haben sich sofort nach Kriegsbeginn auf die Seite ihrer Staaten geschlagen.

Sie kritisieren in Ihrer Erklärung das Konzept des Nationalstaats, das einer Lösung des Konflikts um Bergkarabach grundsätzlich im Wege stehe. Wie sieht eine Regulierung der komplexen Situation Ihrer Meinung nach aus?

Der Südkaukasus lässt sich hinsichtlich seiner Größe und ethnischen Vielfalt mit dem Balkan vergleichen. Was bei uns in den 1990er Jahren passierte, führte auch auf dem Balkan zu vielen Tragödien. Doch dort beteiligten sich ausländische Staaten auf effektive Weise an der Beilegung der Konflikte. Wahrscheinlich war ihr Interesse stark ausgeprägt, weil all das mitten in Europa geschah, während der Karabach-Konflikt weitgehend verdrängt wird. Da diese Region in der Peripherie des kapitalistischen Systems liegt, steht Ausbeutung an erster Stelle, während Stabilität und die Entwicklung von Demokratie zu Nebensache geraten.
Der Grund für den Krieg liegt darin, dass beide Staaten ein hohes Level an ethnischem Hass und Nationalismus in der Bevölkerung kultivieren. In Armenien, das immerhin vorsichtige Schritte in Richtung Demokratie unternommen hat, steht hinter dieser Politik die Auslandslobby, während in Aserbaidschan das autokratische Alijew-Regime dafür verantwortlich ist. Seit 30 Jahren existiert hier de facto eine Monarchie, die vom Vater auf den Sohn überging. Erst wenn Armenien und Aserbaidschan ausreichende demokratische Grundlagen entwickeln, kann sich die Konfrontation zwischen beiden Völkern legen.

Die russische Führung unternahm — zugegebenermaßen eher zögerlich — den Versuch, beide Seiten zu einem Waffenstillstand zu bewegen. Welche Rolle kommen Russland, der Türkei und anderen Staaten bei der Konfliktbewältigung zu?

Russland nimmt diese Region als seinen »Hinterhof« wahr. Das war schon immer so und spielte auch bei der Besetzung aserbaidschanischer Gebiete in den 1990ern Jahren eine Rolle. Nach dem Zerfall der Sowjetunion feuerte Russland ethnische Konflikte in vielen postsowjetischen Regionen an, wobei der um Karabach sich als folgenreichster entpuppte. Später setzte sich Russland als Vermittler in Szene und verkaufte trotzdem Waffen für Milliardenbeträge an Armenien und Aserbaidschan. Die Konfrontation zwischen beiden Ländern dient den Interessen des russischen Kapitals. Gleiches gilt für die Türkei. Noch 2016 hat sie anders reagiert und Aserbaidschan nicht offen unterstützt. Offenbar stoßen jetzt in unserer Region kapitalistische und geopolitische Interessen aufeinander, auch wenn die staatliche Propaganda dies auf andere Weise darstellt. Andere Länder hingegen reagieren bislang mit Zurückhaltung, als ob es nur um eine Einflusszone der beiden »großen Brüder« Türkei und Russland ginge.

Sie selbst sind wieder von Repressionen betroffen. Welche Konsequenzen drohen denjenigen, die in Aserbaidschan offen gegen das Schüren von Hass gegenüber Armenien eintreten?

Beleidigungen und Denunziation bei den Staatsorganen. Seit Kriegsbeginn steigt der Druck auf mich in sozialen Netzwerken. Leute versuchen, meine Telefonnummer und meine Wohnadresse herauszufinden. Erst wurde ich vom Staatsschutz vorgeladen, danach von der Staatsanwaltschaft; beide Male aufgrund der Weiterleitung meiner Kommentare im Internet, wo stand, dass der Krieg nichts bringt und die Regierung zu wenig unternommen hat, um ihn zu stoppen. Solche Meinungen widersprächen dem Staatsinteresse, hieß es.

Was erwarten Sie sich von der Linken im Westen?

Dass sich die Linke im Westen intensiver mit dem Thema Karabach befasst und unsere schwache Stimme unverzerrt weiterträgt. Sie könnte sich aktiver in die Konfliktlösung einbringen, aber vielen fehlt das nötige Wissen. So hat Noam Chomsky einen Friedensappell* unterzeichnet, der von einer einseitigen Sichtweise zeugt. Die Unterzeichnenden gehen davon aus, dass all die 30 Jahre lang nur Armenier die Leidtragenden waren. Hätten diese Intellektuellen beide Seiten zu Friedensgesprächen aufgerufen ohne den historischen Kontext zu entstellen, hätte ich an ihrer Erklärung nichts auszusetzen.


* Bei der kleinen aserbaidschanischen Linken hat die Erklärung große Empörung und Enttäuschung ausgelöst.

Interview: ute weinmann

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