Urlaub, Digitalisierung und Kontrolle über alles
Russland liegt nach den USA, Indien und Brasilien mit rund 1,5 Millionen nachgewiesenen Fällen[1] auf Platz vier der weltweit am stärksten von COVID-19 betroffenen Ländern. Die ersten Infektionen auf russischem Territorium wurden Ende Januar bei zwei chinesischen Staatsbürgern bestätigt. Daraufhin erfolgte die Schließung von Grenzübergängen nach China und Mitte Februar schließlich ein Einreiseverbot für Chines*innen. Infolge dessen gelangte das Virus nun hauptsächlich aus Europa nach Russland. Als verkehrstechnisches zentrales Drehkreuz und Wirtschaftsmetropole entwickelte sich Moskau erwartungsgemäß zum größten Corona-Hotspot. Am 2. März wurde in der Hauptstadt der erste Fall registriert — ein aus Italien zurückgekehrter Urlauber. Obwohl bereits am 5. März Sonderregelungen für Einreisende aus dem Ausland in Kraft traten und zwei Wochen später die Grenzen bis auf wenige Ausnahmen geschlossen wurden, ließ sich die Verbreitung des Virus nicht mehr aufhalten.
Zu dem Zeitpunkt stellte sich die Lage noch nicht dramatisch dar, da das Infektionsgeschehen angesichts weiter räumlicher Entfernungen und der relativ niedrigen Mobilität der Bevölkerung innerhalb des Landes zunächst moderat verlief. Zwei politische Faktoren begünstigten jedoch in besonderem Maße das anfängliche Zögern der russischen Führung, frühzeitig weitreichende Eindämmungsmaßnahmen zu ergreifen: Zum einen die für den 9. Mai 2020 geplanten Feierlichkeiten zum 75. Jahrestages des Sieges im Großen Vaterländischen Krieg, wie der Zweite Weltkrieg in Russland genannt wird. Zum anderen die im Januar von Präsident Wladimir Putin überraschend in die Wege geleitete Verfassungsänderung, über die bereits am 22. April alle Wahlberechtigten abstimmen sollten. Im Kern ging es bei der Verfassungsänderung um die Absegnung zweier weiterer möglicher Amtszeiten für Putin im Namen des Volkes.
Nicht zuletzt um ein etwaiges negatives Abstimmungsverhalten bei dem als triumphalen Zuspruch für Putins Präsidentschaft angedachten Prozedere zu verhindern, kaschierte der Kreml den Anfang April zunächst für eine Woche angeordneten Lockdown als Urlaub bei vollem Lohnausgleich. Ein Großteil der Verantwortung für die Umsetzung von Anti-Corona-Maßnahmen lag bei den Regionalregierungen, die auf sehr unterschiedliche Weise agierten. Karelien erließ harte Beschränkungen noch vor Anstieg der Fallzahlen. Die Nordkaukasusrepublik Tschetschenien und einige weitere Regionen machten ihre Grenzen dicht. Strenge Ausgangsbeschränkungen wurden sehr selektiv und nur in wenigen Landesteilen konsequent umgesetzt.
Moskaus digitaler Sonderweg
Als Vorreiter rigoroser Eindämmungsmaßnahmen entpuppte sich Moskaus Bürgermeister Sergej Sobjanin. China und Singapur dienten ihm in vieler Hinsicht schon als Vorbild als er noch in Westsibirien einen Gouverneursposten bekleidete. Im März berichteten Medien von der geplanten Stilllegung des öffentlichen Nahverkehrs und einer totalen Ausgangssperre mit Unterstützung des Militärs. Doch soweit kam es dann doch nicht. Stattdessen führte Sobjanin Mitte April ein digitales Passierscheinsystem zur Nutzung von Metro, Bussen, Taxi und des eigenen Autos ein. Bis zum 8. Juni musste vor Fahrtantritt unter Angabe einer Reihe persönlicher Daten eine Genehmigung eingeholt werden, andernfalls drohten Strafen. Zudem verloren Fahrausweise ohne vorherige Registrierung im System automatisch ihre Gültigkeit. Nur wenige Zwecke, wie berufliche Fahrten oder der Besuch medizinischer Einrichtungen dienten als legitime Begründung. Die von Sobjanin ohnehin forcierte Digitalisierung erfuhr unter den Bedingungen der Pandemie eine regelrechte Beschleunigung und nimmt mit Gesichtserkennungsprogrammen und dergleichen zunehmend Formen des Überwachungsstaates an.
Doch erntete Sobjanin zunächst auch viel Lob für seine schnelle Reaktion zu einem Zeitpunkt, als der größte Teil des Staatsapparates sich schlecht informiert und zögerlich zeigte. Mehr noch, er nahm eine Führungsrolle im Kampf gegen das Virus ein, was jedoch insofern zu Irritationen im Machtapparat führte, als dass es stellenweise zu einem Bruch mit der gebotenen Subordination kam. So wurde Sobjanin zunächst zum Stellvertreter im Koordinationsrat der Regierung unter Leitung von Premierminister Michail Mischustin zur Bekämpfung des Coronavirus ernannt. Am Folgetag berief Putin persönlich im Staatsrat eine Arbeitsgruppe mit der gleichen Zielsetzung und Sobjanin an der Spitze ein. Weil dieses Gremium formal einen höheren Stellenwert hat, erhielt der Moskauer Bürgermeister unvermittelt mehr Gewicht als der Premierminister. Dies führte zu Reibungsverlusten auf hoher Ebene, was einem klaren Vorgehen in der Corona-Bekämpfung nicht unbedingt dienlich war. Sobjanin und Mischustin gingen allerdings in einer Frage dann doch gemeinsam vor: Zusammen überzeugten sie Putin davon, den Termin der Abstimmung über die Verfassungsänderungen aufgrund rasant steigender Neuinfektionen von April auf den 1. Juli zu verschieben.
Letztlich überwog die Kritik an Sobjanins Vorgehen, nicht zuletzt aufgrund offensichtlicher Missstände hinsichtlich der Koordination von Maßnahmen im Moskauer Verwaltungsapparat und zahlreicher grober Patzer. So führten von einem hochrangigen Beamten angeordnete scharfe Polizeikontrollen am ersten Gültigkeitstag der bereits erwähnten digitalen Passierscheine zu riesigen Menschenaufläufen und einer damit verbundenen erhöhten Ansteckungsgefahr. Die Verantwortung schob Sobjanin allein der Polizei zu, die nicht nur die Kritik von sich wies, sondern sich in den folgenden Wochen auf Moskaus Straßen trotz weiterer Kontrollpflicht bei Verstößen gegen die Corona-Auflagen — verboten waren während des über zweimonatigen Lockdowns sogar Spaziergänge und Sport im Freien — auffällig zurückhielt.
Für heftige öffentliche Kritik sorgte auch eine App zur Kontrolle der häuslichen Quarantäne bei COVID-19 Verdacht. Das «social monitoring» funktioniert über die Aufforderung Selfies vor dem Hintergrund der eigenen Wohnung innerhalb von Minuten zu schicken — vor der Einführung einer Sperrzeit sogar mitten in der Nacht. Infolge hagelte es 54 000 Bußgeldbescheide bei insgesamt 67 000 registrierten User*innen. Nicht aufgrund massenhafter Regelverstöße, sondern weil sich die App durch fehlerhafte Programmierung schlichtweg als untauglich erwies. Massenhafte Bußgeldbescheide erhielten auch Autofahrer*innen. Ein Teil der Strafen wurde später annulliert.
Obwohl Sobjanin im Sommer auf die Beibehaltung strenger Anti-Corona-Maßnahmen bestand, konnte er sich damit nicht durchsetzen. Den Großteil der Beschränkungen ließ er unmittelbar nach einem Treffen mit Putin Anfang Juni aufheben. Politisch hochambitioniert, gilt Sobjanin doch als treuer und verlässlicher Mann in Putins Machtapparat. Im Frühjahr soll sich ihr Verhältnis indes deutlich verschlechtert haben. Grund dafür waren wohl nicht nur diametral entgegengesetzte Ansichten in Bezug auf den Umgang mit der Corona-Epidemie, sondern auch der Umstand, dass Sobjanins gewachsenes Image als kompetenter Krisenmanager bei Licht betrachtet durchaus einem potenziellen Anspruch auf das Präsidentenamt gleichkommt. Putins Herrschaftsmodell basiert, neben weiteren Faktoren, auf hohen Beliebtheitswerten in der Bevölkerung, die im Zuge der andauernden Beschränkungen zunehmend sanken. Mit Blick auf die anstehende Verfassungsabstimmung, galt es, die Stimmberechtigen auf ein positives Ereignis einzustimmen. Die Wochen vor der Abstimmung waren somit nicht mehr von Warnungen vor einem gefährlichen Virus geprägt, sondern, im Gegenteil, von Entwarnung. Die Verbreitung des Virus, so die Botschaft, sei von nun an unter Kontrolle.
Opposition, Protest und politische Verbote
Die Freude über Lockerungen wurde getrübt von wirtschaftlichen Problemen und eklatant sinkenden Realeinkommen. Rosstat, die russische Statistikbehörde, vermeldete für das zweite Quartal 2020, im Vergleich zum ersten, einen Zuwachs von mehr als einer Million Menschen, deren Einkommen unter dem Existenzminimum liegt.[2] Im dritten Quartal waren die Zahlen wieder leicht rückläufig. Zwar legte die Regierung Anti-Krisen-Programme für Unternehmen, Arbeitslose und besonders Bedürftige auf, konnte jedoch die sozialen Folgen des Lockdowns nur geringfügig abfedern. Angesichts offensichtlicher Versäumnisse bei der Behandlung von Corona-Patient*innen und einer besonderen Gefährdung des medizinischen Personals[3] trat die Misere im Gesundheitswesen deutlich hervor. Mit rund einem Viertel aller gemeldeten Ansteckungen konzentriert sich das Infektionsgeschehen weiterhin in Moskau, aber die Hauptstadt verfügt ihrerseits immerhin über weitreichende Möglichkeiten, die in keinem Vergleich zu den knappen Ressourcen der meisten Regionen stehen.
All das verursacht Unmut in der Bevölkerung und fördert die Protestbereitschaft. Die liberale Opposition befand sich zunächst jedoch in einem Dilemma, denn sie betrachtete das Virus als Gefahr und trat ihrerseits für Eindämmungsmaßnahmen ein, so dass die Akzeptanz in dem Lager für die Regierungspolitik ungewöhnlich hoch ausfiel. Ihren Fokus verlegte sie konsequenterweise auf Kritik an der Verfassungsänderung. In der russischen Rechten hingegen überwog von Anfang an die Ansicht, dass die Pandemie in ihren Auswirkungen einer Grippewelle gleichkäme und die erlassenen Schutzmaßnahmen völlig überzogen seien. Zudem nutzen sie den Anlass, um Hass gegen, infolge der Pandemie arbeitslos gewordene, Arbeitsmigrant*innen zu schüren, die sie als öffentliche Gefahr darstellen.
In den Reihen der orthodoxen Kirche formierte sich vor dem Osterfest im April sogar offener Widerstand. Die Kirchen sollten während der Feiertage auf staatliche Anordnung für Gläubige geschlossen bleiben, doch fügten sich nur Gemeinden in etwa der Hälfte der Regionen, während in 43 Regionen die Türen geöffnet blieben.[4] Allerdings verstärkten sich vor diesem Hintergrund ohnehin schwelende Konflikte innerhalb der Kirche und auch deren Verhältnis zum Staat und insbesondere zur russischen Führung kühlte deutlich ab. Dazu kommt eine hohe Ansteckungsrate in kirchlichen Kreisen. Zwar liegen keine offiziellen Zahlen vor, doch allein die sich häufenden Meldungen von an COVID-19 verstorbenen Klerikalen, darunter auch einer der prominentesten Corona-Leugner, Erzpriester Dmitrij Smirnow, sprechen Bände.
Corona-bedingte Versammlungsverbote gelten nur in 35 Regionen, allerdings fällt die Auslegung sehr unterschiedlich aus.[5] In 26 Regionen, darunter in den Metropolen Moskau und St. Petersburg, sind faktisch alle öffentliche Veranstaltungen davon betroffen, selbst Ein-Personen-Kundgebungen mit Plakat. Das kommt einem Verbot der politischen Meinungsfreiheit gleich. Auch hinsichtlich der Frage, wie mit den Auswirkungen der Pandemie in Gefängnissen umzugehen ist, zeigte sich der Staat wenig kompromissbereit. So wurden nicht nur Kontakte zu Angehörigen unterbunden, sondern stellenweise sogar zu Anwält*innen. Gerichtsverhandlungen fanden im Frühjahr mit Verweis auf eine mögliche Ansteckungsgefahr unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt. Seit Oktober gilt diese Regel in Moskau erneut. Nur Verfahren in unaufschiebbaren Fällen landen derzeit vor Gericht, während das Parlament Entscheidungen aufschiebt, die offenbar als wenig relevant betrachtet werden. Das trifft insbesondere auf ein kontrovers diskutiertes Gesetzesprojekt zu, in dem der Umgang mit häuslicher Gewalt neu geregelt werden soll. Zwar nahmen solche Fälle in der Zeit der verordneten Selbstisolation zweifelsfrei zu, aber das russische Oberhaus ließ verkünden, dass es sich mit dieser Frage erst dann wieder beschäftigen werde, wenn das Corona-Virus besiegt sei.
Fazit
Solange die Pandemie die politische Tagesordnung mitbestimmt, versucht die Moskauer Verwaltung durch die Umsetzung digitaler Kontrollmechanismen maximalen Nutzen aus der Situation zu ziehen. Präsident Putin wiederum scheint seine vor den Toren der Hauptstadt gelegene Residenz kaum mehr zu verlassen und hofft auf ihr baldiges Ende. Mit Verweis auf den im Herbst geplanten Beginn von Massenimpfungen fallen die Prognosen der russischen Führung verhalten optimistisch aus. Russland entwickelte weltweit den ersten Impfstoff gegen das neuartige Corona-Virus, ob dieser indes den gewünschten Effekt bringt, ist keinesfalls gesagt.
ute weinmann
[1] Stand Mitte Oktober 2020
[2] https://rosstat.gov.ru/bgd/free/b04_03/IssWWW.exe/Stg/d05/174.htm
[3] Unabhängige Quellen weisen auf eine, im Vergleich zu anderen Ländern, auffallend hohe Sterblichkeit von Beschäftigten im Gesundheitswesen hin. https://zona.media/article/2020/05/19/martyrology
[4] https://www.ng.ru/ng_religii/2020-06-02/10_487_crisis.html
[5] Ausführlich dazu der Bericht von OVD-Info von Anfang September 2020: https://ovdinfo.org/reports/svoboda-sobraniy-na-fone-pandemii#1.