Der belarussische Staat zeigt immer weniger Hemmungen, Gewalt einzusetzen. Unterdessen verhängen Gerichte Haftstrafen wegen vermeintlicher Straftaten gegen Polizisten.
»Ich geh mal eben raus.« Mit diesem harmlosen Satz meldete sich Roman Bondarenko am Abend des 11. November gegen 22 Uhr im Chat mit seinen Nachbarn, bevor er hinunter in den Hof seines Wohnhauses in der Minsker Tscherwjakowstraße ging. Dieser Hof ist allgemein als »Platz des Wandels« bekannt, weil dort kurz vor den Präsidentschaftswahlen im August zwei DJs das wohl bekannteste Lied des sowjetischen Rocksängers Wiktor Zoj abspielten: »Wandel, wir warten auf den Wandel!« Den DJs ist ein Wandbild gewidmet, das ständig übermalt wird, und ein Zaun ist mit roten und weißen Bändern geschmückt, den Farben der Nationalflagge der belarussischen Opposition.
Vom Fenster aus hatte der 31jährige Bondarenko einen Streit zwischen einem Anwohner und einem Unbekannten beobachtet, der offenbar zu einer Gruppe Männer gehörte, die in Kleinbussen kommen und in staatlichem Auftrag diese Bänder abreißen. Eine Augenzeugin schilderte, dass der Unbekannte Bondarenko, der an die Streitenden herangetreten war, grob zur Seite nahm und zu Boden stieß. Anschließend wurde er in einen der Busse verfrachtet und zwei Stunden später mit einem Hirnödem ins Krankenhaus eingeliefert. Er wachte nicht mehr auf.
Bondarenko habe sich die tödlichen Verletzungen im Laufe des Konflikts im Hof zugezogen, gab die Polizei an. Der Diktator Alexander Lukaschenko, gegen den sich die bereits über 100 Tage andauernden Proteste in Belarus richten, legte in gewohnter Manier nach und behauptete, Bondarenko sei betrunken gewesen. Aus einem ärztlichen Gutachten geht indes hervor, dass er keinen Alkohol im Blut hatte. Das berichtete Katerina Borisewitsch, eine Journalistin des Internetportals Tut.by, die sich seit der Veröffentlichung vergangene Woche im Gefängnis des Geheimdiensts KGB in Untersuchungshaft befindet. Gegen sie, den untersuchenden Arzt und eine weitere Person wird wegen Verstoßes gegen die ärztliche Schweigepflicht mit schwerwiegenden Folgen ermittelt. Einmal mehr wird die Aufklärung von Gewalttaten im Staatsauftrag kriminalisiert, während nicht untersucht wird, wer für den Tod Bondarenkos verantwortlich war.
Nexta, ein vom Blogger Stepan Putilo aus dem polnischen Exil administrierter oppositioneller Kanal im Messenger-Dienst Telegram, veröffentlichte zwei aufschlussreiche Telefonmitschnitte. Auf dem ersten sind Stimmen zu hören, die Dmitrij Baskow, dem Vorsitzenden des Eishockeyverbands, und einem Spieler der zweiten Hobbyliga, Dmitrij Schakuta, gehören könnten. Beide wurden von Tut.by zuvor auf Fotos beim Abreißen rot-weißer Bänder identifiziert. In diesem Gespräch wird eine Szene rekapituliert, die auffällig den Vorfällen auf dem »Platz des Wandels« ähnelt. Der am Kopf verletzte Mann, den die beiden zum Wagen getragen hätten, sei noch am Leben gewesen, ansonsten wäre er nicht zur Polizeiwache gefahren worden. Im Bus aber hätte mit ihm »alles Mögliche« passieren können. In der zweiten Aufnahme spricht vermutlich Baskow mit Natalja Ejsmont, Lukaschenkos umtriebiger Pressesprecherin. »Dima« und »Natulja« – so sprechen sich die beiden vertraulich an – diskutierten wie zwei gute Bekannte Einzelheiten einer Spazierfahrt zur Entfernung oppositioneller Bänder. Am Tag nach der Veröffentlichung klassifizierte der KGB das Vorgehen von Nexta als terroristische Aktion.
Am Sonntag nahmen erneut Tausende an der wöchentlichen Demonstration in Minsk teil, die dieses Mal unter dem Motto »Marsch gegen den Faschismus« stand. Wieder ging die Polizei gewalttätig vor und nahm Hunderte Teilnehmer fest. Allwöchentlich stellen sich Menschen die Frage, ob sie es sich leisten können, wegen einer Demonstration fünf, zehn oder 15 Tage im Gefängnis zu verbringen. Manche mag diese Aussicht von der Teilnahme abhalten. Andere fühlen sich in ihrem Zusammenhalt gegen einen Machthaber, dem jedes Mittel recht scheint, nur bestärkt.
Derweil fielen die ersten Urteile in Prozessen, bei denen Polizeiangehörige als Opfer gelten. Zu drei Jahren Haft in einer Strafkolonie wegen Gewalt gegen einen Polizisten, dem tatsächlich kein Haar gekrümmt worden war, wurde ein Mann in Mogiljow verurteilt. In Bobrujsk sprach ein Gericht einen jungen Protestteilnehmer schuldig, einem Polizisten Pfefferspray in die Augen gesprüht zu haben. Dafür muss er zwei Jahre in Haft. In Baranowitschi lautet ein Urteil auf fünf Jahre Haft für eine geworfene Flasche mit Lösungsmittel, die ihr Ziel verfehlt hatte.
Ein Strafprozess droht außerdem einem 20 Jahre alter Minsker, den die Staatsanwaltschaft als Administrator des Telegram-Kanals »Weißkittel« identifizierte, auf dem oppositionell eingestellte Beschäftigte des Gesundheitswesens kommunizieren. Neben vier Ende Oktober festgenommenen Anarchisten, gegen die ein Terrorismusverfahren läuft, wurde im November auch der Minsker Anarchist Mikola Dziadok in einer konspirativen Unterkunft aufgespürt; er wurde nach seiner Festnahme gefoltert. Seine Anwältin Natalja Mazkewitsch verglich die Misshandlung ihres Mandanten mit ihr aus der beruflichen Praxis vertrauten Fällen in Tschetschenien.
ute weinmann