Im Wettlauf mit der Polizei

In Russland dauern trotz Massenfestnahmen die Proteste gegen die Inhaftierung des Oppositionspolitikers Aleksej Nawalnyj an.

Am Sonntag verwandelte sich das gesamte Moskauer Stadtzentrum in eine Sperrzone. Es wimmelte nur so von behelmten Angehörigen diverser Polizeisondereinheiten und Nationalgardisten, die Ein- und Ausgänge etlicher Metrostationen waren geschlossen. Selbst Ältere können sich kaum erinnern, wann sich die russische Staatsmacht in der Hauptstadt das letzte Mal so demonstrativ zur Einschüchterung Protestwilliger in Stellung gebracht hatte. Die Protestierenden aber fanden sich trotzdem zu Tausenden ein.


Beispielloser Aufmarsch der Staatsmacht. Festnahme in der Kalantschewskaja-Straße in Moskau am 31. Januar. Foto uw

Der Oppositionspolitiker Aleksej Nawalnyj sitzt, wie erwartet, weiter in Haft, seine Berufung gegen die Inhaftierung wurde am Donnerstag voriger Woche abgelehnt. Deshalb rief sein Stab zur Fortsetzung der Proteste für seine Freilassung auf. In Anlehnung an das Vor­gehen der belarussischen Opposition erfolgten kurzfristige Ortsansagen für die Protestierenden; diese zogen im Wettlauf mit den Ordnungskräften von einem Platz zum anderen.

Landesweit gab es bis Redaktionsschluss mehr als 5 700 vorläufige Festnahmen, darunter über 90 von Journalistinnen und Journalisten – weitaus mehr als bei der ersten Welle von Kundgebungen am 23. Januar. Schon an diesem Tag landeten mehr Menschen in Polizeigewahrsam, als die dafür vorgesehenen Räumlichkeiten aufnehmen konnten, ein Teil wurde sogar im Moskauer Abschiebezentrum untergebracht oder kam wegen des ­Vorwurfs, Gewalt gegen Staatsbeamte ausgeübt zu haben, in Untersuchungshaft.

Der Strafverfolgungsapparat läuft auf Hochtouren, Gerichte verhängen Geldstrafen oder Administrativhaft im Akkord.

Während allerdings eine Woche zuvor stellenweise organisierte Gegenwehr der Protestierenden erfolgt und es in Sankt Petersburg der Menschenmenge gelungen war, eine Absperrung zu durchbrechen und die Hauptstraße entlang zu demonstrieren, ließ sich dieses Mal mehr Zurückhaltung beobachten – aber nur bei den Protestierenden. Das Vorgehen der Polizei erweckte stellenweise den Eindruck, dass diese regelrecht Revanche nehmen wollte, weil es ihr zuvor nicht gelungen war, die Proteste zu unterbinden. So kamen Elektroschocker und Tränengas zum Einsatz, manche Protestierende erlitten Knochenbrüche. In Wladiwostok wurden Warnschüsse abgegeben. Vielen Festgenommenen werden Nahrungsmittel und Wasser vorenthalten.

Dass es überhaupt zu derart großen Menschenaufläufen mit politischen Forderungen kam, und zwar – ungewöhnlich in Russland – sowohl in großen urbanen Ballungsräumen als auch in kleineren Orten, stellt für die Regierung an sich schon einen Affront dar. Vorbei scheinen die Zeiten, in denen die ökonomisch besser gestellte Bevölkerung der Metropolen gegen die ärmerer Regionen ausgespielt werden konnte.
Offensichtlich ist, dass sich die Wut direkt gegen Präsident Wladimir Putin richtet. Das scheint diesen durchaus zu beschäftigen, und zwar so sehr, dass er sich persönlich zu Nawalnyjs Vorwürfen äußerte, einen Palast mit unterirdischem Eishockeyfeld an der Schwarzmeerküste de facto zu besitzen. Fast erschien es so, als stünde er unter Rechtfertigungszwang. Innerhalb einer Woche wurde ein fast zweistündiges Enthüllungsvideo von Nawalnyjs Fonds zur Korruptionsbekämpfung über die Vermögensverhältnisse Putins und seine Karriere als Profiteur des Zerfalls der Sowjetunion auf Youtube über 100 Millionen Mal aufgerufen.

Juristisch gesehen scheint das imposante, aber geschmacklose Anwesen jedenfalls nicht Putins persönliches Eigentum zu sein; das zu betonen, ist dem Präsidenten ein wichtiges Anliegen. Nach tagelangem Rätselraten wartete schließlich der Oligarch Arkadij Rotenberg mit der Behauptung auf, er sei der eigentliche Eigner des Bauwerks, das mehr als eine Milliarde Euro gekostet haben soll; es sei eines seiner Hotelprojekte. Was sich wie ein Freundschaftsdienst eines engen Vertrauten und Begünstigten im Putin’schen Machtsystem ausnimmt, ändert dennoch nichts an der Stimmungslage: Die hemmungslose Selbstbereicherung der russischen Führungsschicht trifft vermehrt auf offenen Widerspruch.

Nawalnyjs Stab wertete die Proteste vom Wochenende als Erfolg. Das mag angesichts des Kräfteverhältnisses zwischen Protestbewegung und Staatsmacht allzu optimistisch klingen, hat aber einen wahren Kern. Immerhin hat er die Initiative in seine Hand gerissen, während die russische Führung derzeit nur noch reagiert. Der Druck auf Nawalnyjs Team ist zweifellos enorm gestiegen, einige seiner führenden Mitstreiterinnen wie Ljubow Sobol und Kira Jarmysch stehen unter Hausarrest, andere agieren aus dem Ausland. Das harte polizeiliche Durchgreifen hält zwar die öffentlichen Proteste klein, den sich immer deutlicher äußernden Unmut schafft es jedoch nicht aus der Welt.

Häufig ist der Vorwurf zu hören, Nawalnyj biete kein greifbares politisches Programm, sondern nur seine immergleiche Antikorruptionsrhetorik. Für solche Diskussionen ist der Zeitpunkt allerdings denkbar ungünstig. Die Debatte über eine zukünftig vielleicht mögliche politische Umgestaltung Russlands müssen andere führen als der inhaftierte Nawalnyj.

ute weinmann

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