In Georgien herrscht politischer Aufruhr. Nach der Parlamentswahl im Oktober erkannte die Opposition zunächst die Wahlergebnisse nicht an und boykottierte Parlamentssitzungen, im Februar trat Ministerpräsident Giorgi Gacharia zurück. Nun wurde der Oppositionsführer Nikanor Melia festgenommen.
Es waren Szenen wie für das Fernsehen gemacht. Ein riesiger schwarzer Schrank wird umgeworfen, durch die freigewordene Türöffnung drängen behelmte Polizisten in einen Büroraum, ergreifen einen großen Mann mit Glatze und führen ihn ab. Dessen Parteianhänger husten und keuchen wegen einer Tränengasattacke und schreien wütend »Nika!«, können aber seine Festnahme nicht verhindern. Diese Aufnahmen, die der staatliche Fernsehsender Erster Kanal am 22. Februar ausstrahlte, zeigen die jüngste Zuspitzung eines seit 2012 andauernden Konflikts zwischen der regierenden Partei »Georgischer Traum« und der Vereinten Nationalen Bewegung, der Partei des im Exil lebenden ehemaligen Präsidenten Micheil Saakaschwili.
Hinter »Nika« verbirgt sich Nikanor Melia, Parlamentsabgeordneter der Vereinten Nationalen Bewegung und Oppositionsführer, ein Mann mit Hang zu theatralischen Gesten. Ihm wird vorgeworfen, im Juni 2019 die Erstürmung des Parlamentsgebäudes in Tiflis organisiert zu haben, die von gewalttätigen Ausschreitungen begleitet wurde. Den Anlass dazu hatte der Auftritt des russischen Duma-Abgeordneten Sergej Gawrilow im georgischen Parlament geboten, den antirussische Kräfte als Provokation empfanden.
Die Proteste endeten mit diversen symbolischen Zugeständnissen der Regierung, aber auch mit einer grundlegenden Änderung des Wahlgesetzes, das zuvor die jeweils regierende Partei durch ein Direktwahlsystem bevorzugt hatte. Melia, der auch damals festgenommen wurde, kam gegen Kaution frei, musste allerdings eine elektronische Fußfessel tragen. Bei neuen Protesten riss er diese vor Publikum demonstrativ ab, der Aufforderung zur Zahlung einer erhöhten Kaution kam er nicht nach. Mitte Februar dieses Jahres stimmte das Parlament schließlich für die Aufhebung seiner Immunität als Abgeordneter. Somit war der Weg frei für seine Festnahme, als ein Gericht am Mittwoch vergangener Woche Untersuchungshaft verhängte.
Ende Oktober 2020 fanden in Georgien Parlamentswahlen statt, trotz der Covid-19-Pandemie. Deren erste Welle hatte das Land mit drastischen Einschränkungen des öffentlichen Lebens relativ gut überstanden, aber auch dort stiegen die Infektionszahlen in einer zweiten Welle wieder an; die entsprechenden neuerlichen Einschränkungen versetzten der Wirtschaft einen herben Schlag.
Bei den Wahlen gab es die Neuerung, dass Parteien nun bereits ins Parlament einziehen können, wenn sie mehr als ein Prozent der abgegebenen Stimmen auf sich vereinigen können. Von den 150 Sitzen wurden nur noch 30 über Direktmandate vergeben (vor der Wahlrechtsreform war es die Hälfte der Sitze), alle anderen über Wahllisten. Fast sämtliche Umfrageergebnisse deuteten auf einen erneuten Sieg von Georgischer Traum hin, der Partei des Milliardärs Bidsina Iwanischwili, trotz nicht von der Hand zu weisender Popularitätsverluste. Auf Platz zwei lag das Wahlbündnis, zu dem sich die Vereinte Nationale Bewegung mit einigen kleineren Parteien zusammengeschlossen hatte.
Die Stimmenauszählung bestätigte die Prognosen, doch die Opposition klammerte sich an jeden Hinweis, der das offizielle Endergebnis von knapp über 48 Prozent für den Sieger zweifelhaft erscheinen ließ. Das französische Meinungsforschungsinstitut Ipsos zum Beispiel schätzte nach Umfragen vor den Wahllokalen, Georgischer Traum habe lediglich 41 Prozent Zustimmung erhalten und das oppositionelle Wahlbündnis immerhin 33 Prozent anstelle von 27, wie das amtliche Ergebnis lautet. Die Zahlen dieser Umfrage entpuppten sich zwar später als fehlerhaft, die Opposition mobilisierte aber schon am Tag nach der Wahl zu Protesten gegen Wahlbetrug. Bei dieser Gelegenheit kritisierte sie auch die Schließung der Grenzen zu den abtrünnigen georgischen Teilrepubliken Abchasien und Südossetien, deren Bevölkerung andernfalls, so das Kalkül, für einen Zuwachs an Stimmen für das Bündnis gesorgt hätte.
Im Dezember nahm das neugewählte Parlament seine Arbeit auf – allerdings in Abwesenheit der Opposition, die ihren Boykott des Parlaments bekundet und ein entsprechendes Memorandum unterzeichnet hatte. Allerdings schlossen sich diesem Boykott längst nicht alle Parteien an, die sich zuvor für ihn ausgesprochen hatten, wie beispielsweise die Allianz der Patrioten oder Girchi. Letztere, eine Abspaltung der Vereinten Nationalen Bewegung, hatte in Tiflis ein passables Ergebnis erzielt: Die Partei, die als libertäre Verfechterin der gleichgeschlechtlicher Ehe und einer Entkriminalisierung von Drogenkonsum gilt, war auf dem dritten Platz gelandet.
Querelen gab es jedoch auch innerhalb der Vereinten Nationalen Bewegung. Grigol Waschadse, ehemaliger Parteivorsitzender und einer ihrer wichtigsten Vertreter, rief noch im November die Opposition auf, die Proteste zu beenden und in Verhandlungen mit der Regierung zu treten, da die bisherige Taktik der Regierungspartei Georgischer Traum in die Hände spiele. Das sei mit dem obersten Parteigremium nicht abgesprochen gewesen, beschwerten sich seine Parteifreunde. Waschadse kündigte schließlich einen Verzicht auf seine Parteiämter und seinen Austritt an.
Auch bei der Partei Georgischer Traum kam es zu Veränderungen. Der 65 Jahre alte Parteigründer Iwanischwili gab im Januar seinen Rückzug aus der Politik bekannt, aus Altersgründen, aber auch, weil seine Mission beendet sei. Vier Wochen später trat Ministerpräsident Giorgi Gacharia zurück. Als Gründe dafür nannte er eine Reihe von Meinungsverschiedenheiten innerhalb des von seiner Partei neu gebildeten Kabinetts. Der wirkliche Anlass aber war offenbar Melias Festnahme, die Gacharia nicht befürwortet hatte. Seine Nachfolge trat Irakli Gharibaschwili an, der als treuer Anhänger von Iwanischwili gilt. An Melias Festnahme jedenfalls scheiden sich die Geister. Kritik am Umgang mit der Opposition war im Übrigen auch aus der Europäischen Union und den USA zu vernehmen.
Vor dem Parlamentsgebäude steht mittlerweile ein Zeltlager, mit dem Protestierende Verstärkung aus den ländlichen Regionen anlocken wollen. Tausende gingen in Tiflis noch vor dem Wochenende auf die Straße, und es wurden bereits neue Proteste angekündigt. Die Regierung spricht sich zwar grundsätzlich für Verhandlungen aus, doch die Opposition fordert weiterhin – vermutlich aussichtslos – Neuwahlen und Melias Freilassung.
ute weinmann