Ein Jahr nach den gefälschten Wahlen vom August 2020 hält sich Alexander Lukaschenko weiter an der Macht. Die Repression gegen die Opposition wird immer härter.
Swetlana Tichanowskaja wirkt erschöpft. Seit einem Jahr tourt sie durch Europa und nun durch die USA. Vor einem Jahr, am 9. August, wurde sie zur Präsidentin von Belarus gewählt — sagt die Opposition. All deren andere Wahlfavoriten, einschließlich Tichanowskajas Ehemann Sergej, befanden sich zu dem Zeitpunkt bereits in Haft oder hatten fluchtartig das Land verlassen. In einer kürzlich veröffentlichten Auswertung hunderttausender Einträge von Wahlberechtigten über ihre Stimmabgabe und 1517 offizieller Wahlprotokolle legt die unabhängige Plattform Golos (Stimme), die zu einem transparenten Wahlverlauf beitragen wollte, dar, dass Tichanowskaja bereits im ersten Wahlgang 56 Prozent der Stimmen erhielt. Machthaber Alexander Lukaschenko hingegen kam in dieser Rechnung lediglich auf 34 Prozent, doch im Präsidentensessel sitzt nach wie vor er und nicht seine Herausforderin.
Der seit 27 Jahren mit diktatorischen Mitteln regierende Staatschef ist nicht kleinzukriegen. Nur unmittelbar nach der Präsidentschaftswahl tauchte er ab. Zwar brodelte es in der belarussischen Gesellschaft schon seit vielen Monaten, aber niemand hatte mit einem derart wuchtigen Aufbegehren der Bevölkerung gerechnet — einschließlich des ewigen Präsidenten. Es dauerte indes nur wenige Tage, bis er die Fassung wieder erlangte. Vielleicht war dieser Zeitraum der politischen Defensive schlichtweg zu kurz, um die von ihrer eigenen Schlagkraft überraschten Protestierenden zu mehr Entschlossenheit zu beflügeln. Oder zu radikalerem Handeln. Für wenige Augenblicke schien das Ziel, Lukaschenko aus dem Amt zu hieven, greifbar nah zu sein.
Über Monate lieferte die Straße ein anschauliches Bild des gesellschaftlichen Wandels, der Machtapparat fuhr fort wie gewohnt hinter verschlossenen Türen über die Zukunft des Landes zu bestimmen. Aufrufe zu einem Generalstreik ertönten zwar frühzeitig, auch erfolgten stellenweise Arbeitsniederlegungen in Großbetrieben, doch trotz eilig einberufenem Koordinationsrat gelang es der Opposition nicht, ausreichend Druck aufzubauen. Stattdessen ließ sich über lange Zeit ein unheilvoller Kontrast beobachten: Einerseits betont friedlicher Protest der Massen, deren anfängliche Euphorie zusehends dahinschmolz, andererseits für alle sichtbar zur Schau getragene grobe Gewalt prügelnder Polizeieinheiten — einschließlich Folter und Misshandlungen nach unzähligen Festnahmen.
Bevor die Repressionen ihre ganze Kraft entfaltet haben, blühte ein Teil der Gesellschaft regelrecht auf. Allerorts entstanden Basisinitiativen, ganze Wohnviertel vernetzten sich. Und die männlich dominierte Opposition erhielt ein weibliches Gesicht. Überhaupt sind Frauen und ihr Anteil an den Protesten generell viel sichtbarer geworden, sie organisierten sogar eigene Märsche. «Noch mehr beeindruckt haben mich allerdings Demonstrationen anderer Gruppen», erinnert sich Nasta Loiko. Die ausgebildete Juristin arbeitet für die Menschenrechtsorganisation Human Constanta. Spontan nennt sie Studierende, Renterinnen und Rentner und zweimal gab es bei den sonntäglichen Veranstaltungen sogar eigenständige queere Blöcke. Selbst jetzt noch sei zu spüren, dass es mehr Toleranz in der Gesellschaft gegenüber Menschen, die «anders» seien, gäbe. «Erstmals habe ich meine Entscheidung bedauert, mich auf meine Aktivitäten als Menschenrechtlerin zu beschränken.» Und fügt hinzu: «Was es mir jetzt ermöglicht in Belarus zu bleiben.»
Tatsächlich haben etliche Menschen im Zusammenhang mit der sich verschlechternden Situation das Land verlassen. Auf eine exakte Zahl wollen sich die belarussischen Behörden nicht festlegen lassen, eine massenweise Emigration ließe sich nicht beobachten. Schon in den Jahren vor den Wahlen war ein leichter Bevölkerungsrückgang zu verzeichnen, allerdings weit weniger als 60 Tausend, die das Statistikamt Belstat als Differenz zwischen Anfang 2020 und dem Beginn des laufenden Jahres anführt.
Eine legale Ausreise ist wenigen Privilegierten vorbehalten, denn dafür bedarf es einen besonderen Anlass wie eine Arbeitserlaubnis im Ausland. Bleibt der unsichere Weg über die grüne Grenze, vor allem in die Ukraine, nach Polen und Litauen. Regierungskritische polnischstämmige Belarussen werden hingegen regelrecht aus dem Land gedrängt unter Drohung einer Haftstrafe. Im vergangenen Jahr wurden in Belarus über 4200 Strafermittlungen im Zusammenhang mit Extremismus und Terrorismus eingeleitet, gab Generalstaatsanwalt Andrej Schwed kürzlich bekannt. In hunderten Fällen fielen bereits Urteile. Der Staat macht vor niemandem Halt. Im Juni und Juli gingen die Polizeibehörden gezielt gegen kritische belarussische und ausländische Medien vor, auch Menschenrechtler beispielsweise von der Organisation Wjasna wurden verhaftet, Nichtregierungsorganisationen werden dutzendweise liquidiert.
Lukaschenko wettert ohne Ende gegen alle, die er der Gegnerschaft bezichtigt, insbesondere wenn sich eine Verbindung zum Ausland erkennen lässt. «Das ist keine Demokratie, sondern Terror», lamentierte er bei dem vierten Treffen seit Jahresbeginn mit seinem russischen Amtskollegen Wladimir Putin in St. Petersburg. Lukaschenko reiste zum wiederholten Mal als Bittsteller an. Er benötigt zahlungskräftige Bündnispartner und da bleibt ihm nichts weiter übrig, als die Nähe zu Russland zu suchen. Die russische Regierung stärkte ihm bislang den Rücken, denn ein Abgang Lukaschenkos von der politischen Bühne zum jetzigen Zeitpunkt könnte als Zugeständnis an protestierende Massen gedeutet werden. Ein Führungswechsel will schließlich wohl durchdacht sein. Im kommenden Jahr soll die Verfassung geändert werden, die maximal zwei Amtszeiten für Präsidenten vorsieht. Geht es nach dem russischem Vorbild darf Lukaschenko dann wieder mitmischen.
Zum Freundschaftspreis will aber auch Moskau nicht mehr alles liefern. So soll es 2022 zwar keine Erhöhungen für russisches Erdgas geben, auch über weitere Kreditoptionen wurde in St. Petersburg gesprochen, aber der Kreml ist nicht bereit nur als Geber in Erscheinung treten. Ende 1999 unterzeichneten beide Länder einen Vertrag über die Gründung eines Bündnisstaates, dessen Umsetzung äußerst zäh verläuft. Moskau pocht auf die Forcierung des Integrationsprozess, Minsk blockt. Überhaupt ist auf Lukaschenko ist kein Verlass. Dass er in einer Zwangslage wie jetzt mehr Kooperationsbereitschaft signalisiert, bedeutet noch lange keine Erhöhung seiner Glaubwürdigkeit.
Nach personifizierten Sanktionen gegen belarussische Entscheidungsträger, die mangels relevanter Vermögenswerte im Ausland per se zur Wirkungslosigkeit verdonnert waren, verhängte die Europäische Union nach der erzwungenen Landung einer Ryanair-Maschine in Minsk erstmals ein umfangreiches Sanktionspaket gegen Belarus. Dadurch werden die Exportmöglichkeiten von Kalium und anderen Gütern enorm erschwert, Kredite für Staatsbanken sind Tabu. Ein Teil der Maßnahmen greift erst nach Ablauf gültiger Exportverträge, was Lukaschenko Zeit zum Umdenken gibt oder aber zur Umorganisierung eingespielter logistischer Abläufe, um beispielsweise anstelle des nächstgelegenen Seehafens im litauischen Kleipeda russische Alternativen zu nutzen. Russland könnte demnach durchaus von den Sanktionen profitieren, gleichzeitig lässt sich nicht gänzlich ausschließen, dass Lukaschenko, geübt im Lavieren, versucht auszutesten, zu welchen Konditionen die EU bereit ist, wenigstens einzelne Sanktionsmassnahmen aufzuweichen.
Derzeit allerdings liegen sowohl Belarus, als auch Russland auf Konfrontationskurs mit der EU. Minsk legte Ende Juni seine Teilnahme an der Östlichen Partnerschaft auf Eis, zog seinen Verteter aus Brüssel ab und setzte vorläufig das Rückübernahmeabkommen außer Kraft. Mit Zutun der belarussischen Behörden entwickelte sich das Land zum Anziehungspunkt für Flüchtlinge aus dem Irak und afrikanischen Ländern auf dem Weg in die EU. Allein im Juli nahmen litauische Grenzer über 2000 Menschen fest, davon über 1600 mit irakischem Pass. Litauen reagiert nun mit dem Bau einer Mauer zur Unterbindung irregulärer Migrationsprozesse.
Im Ausland arbeiten die Strukturen der belarussischen Opposition auf Hochtouren. BYPOL, ein Zusammenschluss ehemaliger Angehöriger der belarussischen Sicherheitsbehörden mit Sitz in Polen, verfolgt seit Monaten ein Konzept mit dem Namen Peramoga (Sieg), das auf anonymer Basis die Koordination unterschiedlicher Kräfte zur Wiedererrichtung der verfassungsrechtlichen Ordnung anstrebt, wie es in dem Aufruf zur Beteiligung heisst. In Belarus herrscht indes keine Siegesstimmung. «Die Gesellschaft ist traumatisiert», sagt Nasta Loiko. Das gelte sowohl für diejenigen, die Gewalt erfahren, also auch jene, die Gewalt ausgeübt haben. «Ich selber habe dieses Jahr immense Wandlungen durchlaufen von Angstzuständen, der Vorbereitung auf eine Hausdurchsuchung, Antidepressiva, aktiven Handlungsphasen, Wut — von wegen: «wo wart ihr alle früher» bis hin zu Versuchen den ständig mitschwingenden Alarmstimmung stand zu halten.»
ute weinmann
P.S.: Nasta Loiko wurde Mitte August für 72 Stunden festgenommen. Gegen sie läuft ein Verfahren wegen angeblicher Steuerhinterziehung im Zusammenhang mit Ermittlungen gegen die belarussische Menschenrechtsorganisation Viasna