Einen Negativrekord haben die Duma-Wahlen in Russland bereits aufgestellt, noch bevor sie vom 17. bis 19. September stattfinden: Nicht einmal ein Dutzend Parteiunabhängige dürfen zur Wahl antreten, wenn es um die Vergabe der 225 Direktmandate geht. Bei den vorherigen Parlamentswahlen im Jahr 2016 waren es immerhin noch 23. 225 Mandate werden nach repräsentativem Proporzwahlsytem zwischen den Parteien aufgeteilt. Doch auch bei Kandidaturen auf Parteilisten tendiert die zuständige Wahlkommission immer häufiger zu einer Ablehnung des Kandidaten oder der Kandidatin.
Säuberung der anderen Art. Während eines Treffens mit KPRF-Abgeordneten vor dem Hauptgebäude der Lomonossow-Universität in Moskau reinigen Fahrzeuge mit großem Lärm ausgiebig den Platz, 30. August. Foto uw
Das Onlineportal »Waschnyje istorii« (Wichtige Geschichten) konstatierte nach der Auswertung von Daten, die die Bewegung zum Schutz der Wählerrechte Golos (Stimme) erfasst hatte, dass Zulassungsverfahren für parteiungebundene Kandidaturen im Laufe der vergangenen 20 Jahre immer seltener geworden seien. Eine Ausnahme bildeten lediglich die Wahlen zum Moskauer Stadtparlament 2019. Die Regierungspartei Einiges Russland ließ damals anstelle der weitaus einfacheren Zulassung über die Parteiliste ihre Kader Unterschriften in den jeweiligen Wahlbezirken sammeln. Damit simulierte die Partei, die als eine Art verlängerter Arm der Präsidialadministration (PA) fungiert, Unabhängigkeit und Volksnähe. Die PA ist eine direkt dem Präsidenten unterstellte Behörde, die seine Tätigkeit sicherstellen und die Umsetzung seiner Anweisungen kontrollieren soll.
Das in Moskau 2019 angewendete System führte dazu, dass staatsnahe Kandidatinnen und Kandidaten über dieses grundsätzlich für alle offene Verfahren der Unterschriftensammlung nicht nur ihre Legitimation verbessern, sondern häufig sogar auf die logistische Unterstützung kommunaler Einrichtungen bauen dürfen, während von Oppositionellen gesammelte Unterschriften massenweise als ungültig deklariert werden. Aber die zuständige Wahlkommission verweigert die Zulassung häufig auch bei Kandidaturen, die über offiziell registrierte und zur Teilnahme an den Wahlen berechtigte Parteien beantragt werden. Allerdings geht sie dabei auffällig selektiv vor und erteilt mehrheitlich dann eine Absage, wenn es sich um nicht im Parlament vertretene Parteien handelt.
Als Grundlage für solche Ablehnungsbescheide dienen etwa Vorstrafen oder ausländisches Vermögen, beispielsweise der Besitz einer einzigen Aktie der Unternehmen Apple oder Pfizer; aber zur Not tun es auch Aktien des russischen Internetkonzerns Yandex oder der Sberbank. Schließlich werden diese an internationalen Börsen gehandelt. Auch Pawel Grudinin, einem der vorgesehenen Spitzenkandidaten der Kommunistischen Partei (KPRF), der bei den Präsidentschaftswahlen von 2018 knapp zwölf Prozent der Stimmen erhielt, blieb aus diesem Grund eine Zulassung versagt. Er selbst gibt indes an, nicht Besitzer des fraglichen Aktienpakets zu sein, das ihm gehören soll; der populäre Sowchosenleiter soll angeblich Anteile an der in Belize registrierten Firma Bontro Ltd. halten.
Dazu kommt, dass Menschen mit russischem Pass von einer Kandidatur ausgeschlossen werden können, wenn ihnen die Nähe zu »extremistischen Organisationen« unterstellt wird. Als gültiger Nachweis genügt etwa eine kleine Spende für den inzwischen verbotenen Antikorruptionsfonds des Oppositionellen Aleksej Nawalnyj, der derzeit eine mehrjährige Haftstrafe absitzt. Der Wahlmarathon im September, der sich über drei Tage erstreckt, bei dem nicht nur über die Zusammensetzung der Duma entschieden wird, sondern überdies in einigen Regionen lokale Wahlen anstehen, ist so lediglich eine weitere Veranstaltung, bei der man seine Stimme abgeben kann, aber dennoch keine Wahl hat.
Autoritär geht es auch innerparteilich bei Einiges Russland zu. Wer in Schlüsselfragen von der Parteilinie abweicht, muss mit Konsequenzen rechnen. So darf die umtriebige Duma-Abgeordnete Natalja Poklonskaja im September nicht mehr zur Wahl antreten. Die ehemalige Staatsanwältin der Krim galt nach der Annexion der Halbinsel durch Russland als Symbol eines gelungenen Sprungs direkt ins russische Establishment. Aber wegen ihres von orthodox-fundamentalistischen Einstellungen geprägten Kulturkampfes gegen den Film »Mathilde«, der die Liaison des letzten russischen Zaren mit einer polnischen Tänzerin behandelt, kassierte sie viele Lacher und Häme (Jungle World 39/2017). 2018 wagte sie es, als einzige Abgeordnete von Einiges Russland gegen die Erhöhung des Renteneintrittsalters zu stimmen, und läutete damit das Ende ihrer kurzen Bilderbuchkarriere ein. Nun ist sie für einen Botschaftsposten in Afrika im Gespräch. Denn die Partei hat immer recht, selbst wenn die Rentenreform rückblickend dem Einigen Russland einen herben Imageverlust bescherte.
Auf Wahlveranstaltungen, die in Form von Treffen mit den zugelassenen Kandidatinnen und Kandidaten meist auf der Straße stattfinden, äußern die Besucherinen und Besucher häufig ihren Frust über die Rentenreform. Kürzlich bekannte Sergej Bojarskij, stellvertretender Leiter des Duma-Ausschusses für Informationspolitik von der Partei Einiges Russland, in einem auf dem Youtube-Kanal »Lasst mich sagen« gesendeten Interview, dass er stolz auf die Rentenreform sei. Er lobte sich dafür, dass man Verantwortung übernommen habe für zukünftige Politikergenerationen, die bei einem unvermeidlichen Kollaps des alten Rentensystems in wenigen Jahren mit weitaus schmerzhafteren Einschnitten zu reagieren gehabt hätten.
In der KPRF sieht man das ganz anders. Bair Tsyrenow, kämpferischer kommunistischer Abgeordneter der Volksversammlung von Burjatien und Kandidat für die Duma-Wahlen, forderte, die Partei Einiges Russland als extremistische Organisation zu verbieten. Die Partei hinterlasse »nicht weniger Ruinen als andere verbotene terroristische Organisationen«, wetterte er bei einem im burjatischen Fernsehen übertragenen Auftritt.
Unter anderen politischen Voraussetzungen könnte die Rentenreform als dominierendes Wahlkampfthema Gegenstand hitziger Debatten zwischen Befürwortern und Gegnern werden. Aber ein Schlagabtausch zwischen um einen Duma-Sitz konkurrierenden Politikerinnen und Politikern kann allein schon deshalb nicht stattfinden, weil sich Einiges Russland der direkten Konfrontation nicht stellt und Debatten systematisch aus dem Weg geht. Wozu auch debattieren, wo doch das staatliche Fernsehen Wahlkampfhilfe in großem Maßstab leistet? Die für Fernsehauftritte vor den Wahlen gesetzlich vorgeschriebene Sendezeit dürfen sich dann die Parteien untereinander aufteilen.
Die Bewegung Golos, der im Übrigen jüngst die zweifelhafte Ehre zuteil wurde, als erste nicht offiziell registrierte Organisation von Staats wegen als »ausländischer Agent« geführt zu werden, weist auf aufschlussreiche Merkmale des Wahlkampfs hin. Während das Fernsehen kaum über andere Parteien als Einiges Russland berichte, böten soziale Medien ein anderes Bild. Zur täglichen Auswertung der Häufigkeit von Parteiennennungen im Wahlkampf nutzte Golos die Systeme Scan Interfax und Brand Analytics und berücksichtigte die sozialen Medien Vkontakte, Odnoklassniki, Instagram, Facebook, Youtube, Tiktok und Twitter; außerdem Telegram (Blogs, Foren, öffentliche Kanäle und Chats). Die Auswertung ergab, dass in den sozialen Medien zwar auch die Regierungspartei Einiges Russland mit einem Anteil von über 30 Prozent an allen Nennungen an erster Stelle komme, an zweiter Stelle folge jedoch schon die KPRF mit knapp 25 Prozent, während andere Parteien kaum genannt würden. Daraus lasse sich nach Ansicht des Politologen Abbas Galljamow eine klare Schlussfolgerung ziehen: Weil die nicht ins Machtsystem integrierte Opposition von den Wahlen schlichtweg ausgeschlossen sei, bleibe nur die Konkurrenz zwischen Einigem Russland und der KPRF. Wer mit den Verhältnissen einverstanden sei, stimme demnach für erstere Partei, wer den Status quo ablehne, stimme für die Kommunisten.
In Moskauer Wahlkreisen zeichnet sich tatsächlich ab, dass es wenigstens hier für Einiges Russland eng werden könnte. Trotz ungleicher Ausgangsbedingungen liefern einige Oppositionelle ernstzunehmende Kampfansagen. Zu ihnen gehört der 37 Jahre alte Mathematik-Dozent und Gewerkschafter Michail Lobanow, der im Westen Moskaus für die KPRF antritt, obwohl er kein Parteimitglied ist. Seine breit angelegte Kampagne ist der Versuch der gewerkschaftsnahen Linken, wieder politischen Boden unter die Füße zu bekommen. Sollte er es schaffen, mehr Stimmen auf sich zu vereinigen als der Fernsehmoderator Jewgenij Popow, der für Einiges Russland antritt, wäre das eine kleine Sensation.
Nawalnyj hält es indes, wie er in einem kürzlich in der New York Times veröffentlichtem Interview verlauten ließ, durchaus für realistisch, dass so manches Direktmandat an jene gehen könnte, die das Präsidialamt nicht als Sieger vorgesehen hatte.
ute weinmann