Ein Schießbefehl und viele Tote

Nachdem die Flüssiggaspreise sich verdoppelt hatten, kam es in Kasachstan zum Aufstand. Zahlreiche Menschen starben. Im Staatsapparat brachen Machtkämpfe aus.

Am Montag hingen Kasachstans himmelblaue Flaggen mit der gelben Sonne vielerorts im Land auf Halbmast. Prä­sident Qassym-Schomart Toqajew hatte Staatstrauer angeordnet. Diese Geste galt denjenigen, die bei dem Aufstand vorige Woche ums Leben gekommen waren.
Ihre genaue Zahl ist unbekannt: Am Sonntag war in einem regierungsnahen Kanal des Messenger-Diensts Telegram zunächst von 164 Toten die Rede, doch das Gesundheitsministerium dementierte diese Zahl bald darauf, ohne weitere Angaben zu machen. Überhaupt werfen die jüngsten Ereignisse in der ehemaligen Sowjetrepublik zahlreiche Fragen auf, auch weil der Informationsfluss in den vergangenen Tagen zwischenzeitlich stark eingeschränkt war – die Regierung hatte das Internet im Land nahezu vollständig abgeschaltet.

Zum Jahresbeginn verdoppelten sich die Preise für Flüssiggas, mit dem in Kasachstan viele Fahrzeuge betrieben werden. In Schangaösen, einer Stadt in der Region Mangghystau in Westkasachstan, in der 2011 nach einem Streik Dutzende Ölarbeiter niedergeschossen worden waren und in der Protestaktionen an der Tagesordnung sind, kam es bereits am 2. Januar zu ersten Protesten. Zunächst forderten die Protestierenden lediglich eine Senkung des Gaspreises, doch die zögerliche Haltung der Staatsführung, die für Mangghystau nur eine geringe Preissenkung in Aussicht stellte, ließ den Unmut wachsen.

Als die Regierung sich bereit zeigte, den Protestierenden weiter entgegenzukommen, hatten die Proteste bereits den gesamten westlichen Landesteil erfasst und politische Forderungen waren hinzugekommen: die Rückkehr zur Verfassung von 1993, die eine klar definierte Gewaltenteilung vorgesehen hatte, Neuwahlen auf allen Ebenen und die Absetzung der gesamten politischen Führungsriege.

»Alter, hau ab!« tönte es immer lauter. Damit war der 81jährige Nursultan Nasarbajew gemeint, gegen den der Zorn sich vorrangig richtete. Er hatte im Frühjahr 2019 nach fast 30 Jahren Präsidentschaft, in denen er das Land autoritär regiert hatte, sein Amt an ­Toqajew übergeben. 2010 war Nasarbajew vom kasachischen Parlament zum »Führer der Nation« (auf Kasachisch »Elbasy«) ernannt worden. Nach seinem Rücktritt als Präsident blieb er Vorsitzender des einflussreichen Sicherheitsrats.

Am Abend des 4. Januar begann die Situation zu eskalieren. In der südostkasachischen Millionenstadt Almaty, dem wirtschaftlichen und kulturellen Zentrum des Landes, brannte ein Gebäude der Staatsanwaltschaft, einige Protestierende benutzten Waffen, die sie Soldaten und Polizeikräften abgenommen hatten. Manche Ordnungshüter schlugen sich auf die Seite der Protestierenden oder leisteten zumindest keine Gegenwehr. In der ebenfalls im Südosten des Landes gelegenen Stadt Taldyqorghan wurde eine Nasarbajew-Statue mit Hilfe eines Lastwagens gestürzt.

Am 5. Januar entließ Toqajew die Regierung. Am Dienstag wählte das kasachische Parlament den von Toqajew vorgeschlagenen Alichan Smajilow zum neuen Ministerpräsidenten. Er hatte das Amt seit der Absetzung der Regierung bereits übergangsweise inne. Ebenfalls am 5. Januar löste Toqajew Nasarbajew als Vorsitzenden des Sicherheitsrats ab. Später verkündete Nasarbajews Pressesprecher, der ehemalige Präsident, dessen derzeitiger Aufenthaltsort nicht bekannt ist, habe sein Amt freiwillig an Toqajew übergeben. Toqajew ließ zudem die Preise für Grundnahrungsmittel, Elektrizität, Heizung und Wasserversorgung für die kommenden 180 Tage einfrieren, zudem gilt in diesem Zeitraum eine staatliche Preisregulierung für Benzin, Diesel und Flüssiggas.

Zu einem früheren Zeitpunkt hätten diese Maßnahmen möglicherweise ausgereicht, um die Gemüter zu beruhigen, aber die Stimmung war bereits derart aufgeheizt, dass die Proteste anhielten. Am selben Tag wurde der Flughafen von Almaty gestürmt, was den Flugverkehr ins Ausland über Tage lahmgelegte. Zahlreiche Privatjets hatten da bereits Ziele in Westeuropa angesteuert.

Während die Menschen in Schangaösen und anderen westkasachischen Städten noch tagelang ihre friedlichen Demonstrationen fortsetzten, gab es in Almaty blutige Auseinandersetzungen. Es kam zu Plünderungen, Zivilisten schossen wild um sich. Toqajew verhängte am 5. Januar den Ausnahme­zustand über Mangghystau und Almaty; später dehnte er diesen auf das gesamte Land aus. Zudem erteilte er der Armee den Befehl, ohne Vorwarnung zu schießen, wovon diese offenbar ausgiebig Gebrauch machte.

Toqajew behauptete, die Proteste seien von Terroristen angefeuert worden, die teils aus dem Ausland stammten. Weil Gefahr für die »nationale Sicherheit« bestehe, bat er am 5. Januar die Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (OVKS), ein von Russland geführtes Militärbündnis mit Armenien, Belarus, Kasachstan, Kirgisien und Tadschikistan um militärische Hilfe. Am Tag darauf wurden erstmals seit der Gründung des Bündnisses 1992 Truppen in ein Mitgliedsland entsandt. Russland stellt mit mehreren Tausend Soldaten das größte Kontingent. Es soll vorrangig strategisch wichtige Objekte sichern.

Ob sich dieser Schachzug auszahlt oder längerfristig als fataler Fehler erweist, ist offen. Toqajew wird wohl dafür sorgen müssen, dass die ausländische Truppenpräsenz nicht allzu lange dauert, soll sein Prestige als ranghöchster Garant für Kasachstans Souveränität keinen Schaden nehmen. Folgerichtig kündigte er bereits für Donnerstag den Beginn des Truppenabzugs an.

Ihm fehlte es anfangs offenbar an Rückhalt im Geheimdienst, der Polizei und der Armee des Landes. Anders lässt sich kaum erklären, dass er die OVKS bemühte. Zugleich baute er in den vergangenen Tagen seine Position aus, indem er an den Stützen von Nasarbajews Clan rüttelte und einige dessen zentraler Kader aus dem Apparat entfernte. So wird gegen Karim Masimow, bis vor kurzem Leiter des kasachischen Inlandsgeheimdiensts, wegen Landesverrats ermittelt, zwei seiner Stellvertreter wurden entlassen. Als Erster Stellvertreter blieb allerdings Samat Abisch, ein Neffe Nasarbajews, im Amt.

Dessen Bruder Kajrat Satybaldy zählt nicht nur zu den vermögendsten Kasachen, sondern gilt auch als Fürsprecher militanter islamistischer Gruppen. In sozialen Medien kursieren Berichte, wonach Provokateure von einen Satybaldy nahestehenden Kriminellen angeheuert worden seien, der inzwischen festgenommen worden sei. Russische Staatsmedien wiederum verbreiten die Ver­sion, die Proteste seien aus dem Ausland gesteuert worden.

Russische Politologen hatten in den vergangenen Monaten viel darüber spekuliert, ob das kasachische Modell des Machttransfers als Vorbild für den russischen Präsidenten Wladimir Putin taugen könnte. Gemeint ist der Verzicht auf das Präsidentenamt unter Beibehaltung weitreichender politischer Kontrolle. Angesichts der jüngsten Ausschreitungen und Nasarbajews wankender Stellung im Machtgefüge sei diese Option nun aber nicht mehr gegeben.

Iwan Safrantschuk, Direktor des Zentrums für euroasiatische Forschungen am Moskauer Staatsinstitut für Internationale Beziehungen, meint, im Grunde sei nicht einmal klar, welchen Plan Nasarbajew mit der Ernennung Toqajews zum Präsidenten tatsächlich verfolgt habe – sprich, ob Toqajew als sein Hoffnungsträger galt oder nur als Interimskandidat. In den vergangenen zwei Jahren jedenfalls sei Toqajew mit konträren Erwartungen konfrontiert gewesen: Ein wachsender Teil der Gesellschaft habe auf grundsätzliche Veränderungen gepocht, während Nasarbajew Kontinuität eingefordert habe.

Russland verfolgt in Kasachstan ökonomische und militärische Interessen, zudem befindet sich dort der rus­sische Weltraumbahnhof Baikonur. Mit knapp 19 Prozent der Gesamtbevölkerung sind die vor allem in Nordkasachstan lebenden Russen eine große Minderheit, deren Anteil durch Emigration allerdings rückläufig ist. Russische Nationalisten und Verfechter von Großmachtambitionen begrüßten den Militäreinsatz im Nachbarland, nicht zuletzt mit Verweis auf den angeblich notwendigen Schutz ethnischer Russen.

Putin mag rhetorisch in diesem Sinne auftreten, faktisch unterstützt er die Russland loyal gesinnten führenden Gruppen in Kasachstan. Dort wiederum könnten durch eine andauernde Präsenz russischer Truppen antirussische Stimmungen wachsen. Die Soziologin Diana Kudaibergenova von der University of Cambridge vertritt dennoch die These, dass von Nationalismus getragene Proteste in Kasachstan in absehbarer Zeit kaum zu erwarten seien. Die Menschen beschäftige vielmehr ihre sozioökonomische Lage.

Das mittlere Einkommen in Kasachstan beträgt rund 300 Euro, das heißt, dass die Einkünfte der Hälfte der Beschäftigten unter diesem Wert liegen. Die Folgen der Covid-19-Pandemie und das Sinken der Einnahmen aus dem Rohstoffexport bei gleichzeitiger Verteuerung der Lebenshaltungskosten trafen nicht nur die Ärmeren. Fast die Hälfte der Einwohner Almatys lebt perspektivlos unter besonders prekären Umständen, da ist es kaum ­verwunderlich, dass die riots auch zu Plünderungen genutzt wurden.

Die Liste an schwerwiegenden ­Problemen des Landes fällt so lang aus, dass es wohl nur eine Frage der Zeit ist, bis die nächsten Proteste ausbrechen, zumal die kasachische Führung allem Anschein nach nicht von ihrer Machtfülle lassen will.

ute weinmann

Jungle World

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