Nach den Gesprächen Russlands mit den USA und der Nato setzte umgehend die verbale Konfrontation wieder ein. Doch sicherheitspolitische Verhandlungen könnten folgen.
Kaum waren die vom 10. bis 13. Januar anberaumten Gespräche in Genf, Brüssel und Wien zwischen Russland, den USA, dem Militärbündnis Nato und der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) zu Ende, ertönten offizielle Verlautbarungen in gleicher Schärfe wie zuvor. Der russische Außenminister Sergej Lawrow und seine Stellvertreter weisen mit wachsender Verärgerung alle Anschuldigungen zurück, Russland bereite eine Militärinvasion in ukrainisches Staatsgebiet vor. Das wiederum hält die US-amerikanische Führung nicht davon ab, Russland solche Absichten zu unterstellen.
Jen Psaki, die Sprecherin des Weißen Hauses, spekulierte am Freitag vergangener Woche bei einem Pressetermin, dass russische Truppen zwischen Mitte Januar und Mitte Februar einen geplanten Angriff beginnen könnten. Es sei damit zu rechnen, dass Russland einen Vorwand zur Rechtfertigung provoziere. Ohne Einzelheiten zu nennen, teilte der Pressesprecher des US-Verteidigungsministeriums, John Kirby, am selben Tag mit, es lägen darüber bereits Informationen vor. Außerdem informierte er die Presse darüber, dass sich in der Ukraine derzeit weniger als 200 US-Instrukteure der Nationalgarde aufhielten, die das ukrainische Militär trainierten. Militärhilfe sei auch in Zukunft vorgesehen.
Eine Gruppe von US-Senatoren der Demokratischen Partei hatte da schon einen ersten Vorschlag für erweiterte Sanktionen gegen Russland vorgelegt, die sich auch gegen Präsident Wladimir Putin, Ministerpräsident Michail Mischustin, den Chef des Generalstabs Walerij Gerassimow und Sergej Lawrow persönlich richten. Darauf reagierte die russische Regierung mit scharfen Worten und drohte, die Beziehungen zu den USA abzubrechen, sollten diese Sanktionen in Kraft treten. In der Liste werden zudem unter anderem weitere Sanktionen gegen den russischen Bankensektor und eine mögliche Beschränkung des Zugangs Russlands zum internationalen Zahlungssystem Swift genannt – dem Handelsblatt zufolge haben die USA und die EU Letzteres wegen der unkalkulierbaren Folgen bereits wieder verworfen.
Vor dem Hintergrund einer derart frostigen und von gegenseitigem Misstrauen geprägten Grundstimmung wirken die Treffen der vergangenen Woche fast schon als zaghafter Versuch, Sachlichkeit walten zu lassen. Zumindest fanden themenorientierte Aussprachen und eine Positionsklärung im direkten Gespräch statt. Mehr war ohnehin nicht zu erwarten gewesen. Die Nato unterstrich in aller Deutlichkeit, dass das Bündnis nicht auf eine mögliche Osterweiterung verzichten werde und Russland als Aggressor einstufe. Danach zeigte sich die russische Seite mit dem Ergebnis demonstrativ unzufrieden, wenngleich ihre Unterhändler kaum mit der Erwartung angetreten sein dürften, mit ihren vor den Gesprächen unterbreiteten detaillierten und weitreichenden Forderungen auf Zustimmung zu treffen.
Die Ukraine wird wohl weiterhin aus den USA mit Rüstungsgütern und militärischem Know-how versorgt werden. Juristisch verbindliche Sicherheitsgarantien, wie sie das russische Außenministerium erneut forderte, wird es zunächst nicht geben. Auch dürfte die Nato ihre Raketenabwehrbasen in Rumänien oder Polen nicht abbauen, die in Russland wesentlich mehr Besorgnis hervorrufen als beispielsweise im Baltikum stationierte Truppen – Russland seinerseits werde seine Streitkräfte nicht aus der Exklave Kaliningrad abziehen.
Dennoch zeigt sich am Horizont ein kleiner Lichtstreifen. Die USA stellten in Aussicht, die Verhandlungen über den 2019 unter der Präsidentschaft von Donald Trump aufgekündigten INF-Vertrag, in dem die Vernichtung bodengestützter nuklearer Flugkörper mittlerer und kürzerer Reichweite vereinbart worden war, wiederaufzunehmen. Es scheint auch nicht ganz unrealistisch, dass es hinsichtlich eines Verzichts auf die Stationierung US-amerikanischer Raketensysteme in der Ukraine zu einer Einigung kommen könnte. Gleiches gilt für die Militärunterstützung anderer Nato-Mitgliedstaaten für die Ukraine. Bereit für weitere Gespräche und die Wiedereröffnung des russischen Militärvertretung bei der Nato in Brüssel zeigt sich auch deren Generalsekretär Jens Stoltenberg.
Kurz nach Ende der mehrtägigen Sicherheitsgespräche ließ der russische Inlandsgeheimdienst FSB auf Anfrage der USA über ein Dutzend Mitglieder der russischen Hackergruppe Revil festnehmen, die durch den Einsatz von Ransomware etliche Firmen erpresst hatten. Der Sondereinsatz lässt sich durchaus als diplomatische Bekundung des guten Willens Russlands verstehen.
Die Nato spricht von einer realen Kriegsgefahr, aber selbst wird sie kaum in eine offene kriegerische Auseinandersetzung mit Russland geraten wollen. Russlands Armee hat stark aufgerüstet. Wäre die Ukraine ein Nato-Mitgliedstaat, stünde das Bündnis im Falle eines russischen Angriffs in der Pflicht.
Der ehemalige Nato-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen sagte kürzlich, dass über eine Mitgliedschaft Schwedens und Finnlands, die beide dem Bündnis nicht angehören, über Nacht entschieden werden könnte – wobei beide skandinavische Staaten prompt mit der Bekundung reagierten, das Thema stehe bei ihnen nicht auf der Tagesordnung. Bei ost- und südosteuropäischen Staaten, die innerhalb der vergangenen 20 Jahre der Nato beitraten, dauerte die Entscheidung länger. Georgien und die Ukraine befinden sich seit April 2008 in der Warteschleife (die Bundesregierung nennt das »Nato-Perspektive«) und es sieht ganz danach aus, dass beide Länder da auch bleiben werden.
Es zeigt sich, dass die Osterweiterung des Verteidigungsbündnisses zwar dem Sicherheitsbedürfnis einzelner Ländern entgegenkommt, global oder zumindest gesamteuropäisch betrachtet jedoch zu Instabilität führt oder führen kann. Die Aussicht auf eine Nato-Mitgliedschaft dürfte den damaligen georgischen Präsidenten Micheil Saakaschwili im August 2008 zu dem Versuch ermuntert haben, die abtrünnige Region Südossetien mit militärischen Mitteln zurückzugewinnen, was Russland mit dem Einsatz seiner weit überlegenen Streitkräfte verhinderte. Wo Russland seine unmittelbaren Interessen berührt sieht, besteht die reale Gefahr einer militärischen Eskalation. De facto kann die russische Führung auf diesem Weg indirekt zumindest eine Ausweitung der Nato unterbinden.
Im Sommer 2021 hat Russland eine neue nationale Sicherheitsstrategie verabschiedet. Sie bekundet überaus deutlich, dass sich die politische Führung in einer – tatsächlichen oder imaginierten – Konfrontation mit dem Westen eingerichtet hat. Deshalb gibt es staatliche Rücklagen, um Sanktionen abfedern zu können. Noch mehr verlässt sich Russlands Diplomatie weiterhin auf die Stärke der Armee. Dennoch verhandeln Russland und der Westen derzeit ernsthafter über Sicherheitsfragen in Europa als zu Zeiten wechselseitiger Freundschaftsbekundungen.
Präsident Wladimir Putin hat nie einen Hehl daraus gemacht, dass die 1990 geschlossene Charta von Paris, die den Ländern Osteuropas implizit das Recht einräumt, sich aus eigener Entscheidung einem Militärbündnis anzuschließen, aus seiner Sicht ein riesiger Fehler war. Russische Einwände wurden seinerzeit ignoriert, auch weil keine ernsthaften negativen Folgen absehbar waren. Als Sergej Lawrow am Freitag voriger Woche bei einem mehrstündigen Pressegespräch die Frage gestellt wurde, warum Russland ausgerechnet jetzt und mit einer solchen Dringlichkeit Sicherheitsgarantien von den USA und der Nato einfordert, antwortete er hoch emotional: Es sei einfach zu viel geworden, man sei mit der Geduld am Ende. Vielleicht will Putin schlicht Ergebnisse erzielen, bevor seine jetzige Amtszeit im Jahr 2024 abläuft, und kalkuliert langwierige Verhandlungen ein.
ute weinmann