Das bedeutungslose Referendum

Russische Politiker und Geschäftsleute verzeichnen auch in der Pandemie erstaunlich hohe Einkünfte. Das Referendum über die Verfassungsänderungen, die Wladimir Putin weitere Amtszeiten als Präsident bescheren sollen, ist auf den 1. Juli verschoben worden.

Der Appetit kommt bekanntlich beim Essen. Für russische Politiker und ­Superreiche stellt diese Binsenweisheit eine Art Lebensmotto dar. Innerhalb des vergangenen Jahres erhöhte Aleksej Schaposchnikow, Sprecher des Moskauer Stadtparlaments, seine Einkünfte von umgerechnet 320 000 Euro auf 25 Millionen Euro. Wladimir Potanin, den das Wirtschaftsmagazin Forbes als reichsten aller russischen Geschäftsleute führt, erhöhte sein Vermögen allein zwischen Mitte März und Ende Mai, also seit Beginn der Covid-19-Pandemie, um umgerechnet 6,4 Milliarden US-Dollar. Jüngst geriet sein Bergbauunternehmen Nornickel in die Schlagzeilen, weil im nordsibirischen Norilsk fast 21 000 Tonnen Diesel aus dem Tank eines von dem Konzern betriebenen Wärmekraftwerks ausgelaufen waren. Das Leck hat ein absackender Stützpfeiler verursacht, womöglich weil wegen des Klimawandels der Permafrostboden auftaut und keine Vorkehrungen gegen die zu erwartenden statischen Veränderungen getroffen wurden. Die Folgen für das empfindliche Ökosystem im hohen Norden sind verheerend. Potanin seinerseits erwartet zwar eine Strafe, aber viel zu verlieren hat er dadurch nicht. Читать далее

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Die Maskenlieferantin

Anastasija Wassiljewa ist eine Frau der Tat, die sich nicht so schnell einschüchtern lässt. Auch Festnahmen bringen sie nicht aus dem Konzept. Das gehört im heutigen Russland zu den unerlässlichen Voraussetzungen, wenn es darum geht, Missstände nicht nur verbal anzuprangern, sondern auch real gegen sie vorzugehen. Vor zwei Jahren hat die schlagfertige Mittdreißigerin die unabhängige Gewerkschaftsorganisation Ärzteallianz ins Leben ­gerufen, die inzwischen rund 1 000 Mitglieder zählt. Die Ärzteallianz verhinderte die Schließung einer Rettungsstelle in dem zwischen Moskau und St. Petersburg gelegenen Ort Okulowka und will künftig ausgebildete Ärztinnen und Ärzte weiterqualifizieren. Читать далее

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Russland sucht Normalität

Während Präsident Putin auf die Öffnung des Landes drängt, zögert Moskaus Bürgermeister Sobjanin

Am Montag war es soweit: Wladimir Putin kehrte aus dem Homeoffice in den Kreml zurück. In Russland, so hat es den Anschein, hält nach dem Lockdown wieder ein wenig Normalität Einzug. Noch mehr Symbolkraft strahlt seine am Dienstag verkündete Entscheidung aus, die Siegesparade, die am 75. Jahrestag des Kriegsendes am 8. Mai nicht stattfinden konnte, nun am 24. Juni abzuhalten. An diesem Datum im Jahr 1945 marschierte die Rote Armee über den Roten Platz. Um Massenaufläufe zu verhindern, soll das »Unsterbliche Regiment« zum Andenken an Kriegsteilnehmenden nicht vor dem 26. Juli über die Bühne gehen. Offen bleibt, wann die ursprünglich für April angesetzte Volksabstimmung über Putins Verfassungsänderungen nachgeholt wird; vielleicht schon Anfang Juli.


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Dubiose Statistiken

Die russische Regierung lockert die Maßnahmen gegen die Covid-19-Pandemie. An den offiziellen Statistiken zu den Infektions- und Todeszahlen gibt es erhebliche Zweifel.

Nach über sechs Wochen ist Schluss mit den häuslichen Coronaferien. Ende März ordnete Präsident Wladimir Putin für ganz Russland eine Auszeit an, die bis zum Ende der traditionellen Maifeiertage andauern sollte. Am 11. Mai setzte er dem unfreiwilligen Müßiggang ein Ende. Die russischen Regionen sind angehalten, die Einschränkungen allmählich zu lockern. An diesem Tag stieg die Zahl der gemeldeten Neuinfektionen um 11 656 – so viele wie nie zuvor. Da traf es sich gut, dass schon am nächsten Tag die Zahl der gemeldeten Neuinfektionen sank. Die stellvertretende Ministerpräsidentin Tatjana Golikowa teilte zudem mit, die Sterblichkeitsrate bei Covid-19 sei in Russland um das 7,4fache niedriger als im weltweiten Durchschnitt. Читать далее

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Moskau in Selbstisolation — III

Moskau in Selbstisolation I + II


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»Antifaschismus ist verdächtig«

Vadim Damier ist promovierter Historiker und Autor zahlreicher Bücher über die Geschichte sozialer Bewegungen sowie den Anarchismus in Russland und weltweit. Mit der »Jungle World« sprach er über die Bedeutung des 9. Mai im heutigen Russland und das dortige Verständnis von Antifaschismus.


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Die Parade in Moskau zum 75. Jahres­tag des Sieges über den Faschismus wurde wegen der Covid-19-Pandemie verschoben. Andere Veranstaltungen wurden in letzter Minute abgesagt, wie die Einweihung der »Kirche des Sieges« im militärisch ausgerichteten Freizeitpark »Patriot« bei Moskau. Bei dieser handelt es sich um einen Nachbau der Kirche der Auferstehung Christi in Sankt Petersburg, die anlässlich des Siegs über Napoleon errichtet worden war und symbolische Bedeutung für die russischen Streitkräfte hat. Ist der 9. Mai in Russland überhaupt noch ein antifaschistischer Feiertag?

Dem offiziellen Antifaschismus im heutigen Russland lag von Anfang an eine überaus spezifische Auffassung ­zugrunde. Auch wenn der Sieg über den Faschismus auch als Sieg über ein menschenfeindliches Regime gedeutet wurde und nach wie vor wird, ging es im Wesentlichen immer um die Legitimierung des russischen Staats. Antifaschismus dient in Russland vorrangig als Mittel zur Staatslegitimierung, und zwar in Kombination mit dem Verweis auf russische wie auch sowjetische militaristische Großmachttraditionen. Darauf geht auch die in patriotischen Kreisen weitverbreitete Leugnung der Existenz und sogar der theoretischen Möglichkeit eines russischen Faschismus zurück. Faschismus wird weniger mit seinen realen ideologischen und politischen Prinzipien identifiziert, also beispielsweise mit ultranationalistischen oder extrem sozialdarwinistischen Auswüchsen, sondern explizit ­allein mit Hitler-Deutschland und dem Zweiten Weltkrieg. Insofern steht der 9. Mai in der allgemeinen Wahrnehmung nicht für den Sieg über den Faschismus als solchen, sondern für den Sieg des russischen Staats über Deutschland. Und dieser reiht sich in eine Kette weiterer Siege der russischen Militärmacht im Verlauf der Geschichte ein. Diese Kontinuität zeigt sich auch in der Symbolkraft der erwähnten Kirche. Читать далее

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Der unsichtbare Feind

Die Infektionszahlen steigen in Russland stetig, auch ohne Siegesparade zum 9. Mai. Erste Lockerungen gibt es trotzdem.

Unüberhörbarer Fluglärm erinnerte die Moskauerinnen und Moskauer Anfang der Woche daran, dass der 9. Mai, der Tag des Sieges, bevorsteht. Zwar wurde die Parade auf dem Roten Platz verschoben, nicht aber der in der Luft geplante Veranstaltungsteil, dessen Generalprobe lautstark über die Stadt hinwegfegte. Dazu ein festlicher Salut und die Aktion »Unsterbliches Regiment« — die aber nur im Internet. 75 Jahre nach dem Sieg über den deutschen Faschismus kämpft Russland derzeit gegen einen ganz anderen Feind. Erst vor wenigen Tagen hat es Deutschland und Frankreich bei den Covid-19-Infektionen eingeholt. Die Zahlen steigen so rasant, dass Russland mit 187 859 bekannten Fällen auf Platz fünf im weltweiten Vergleich geklettert ist. Wenn das Tempo nicht gedrosselt wird, lässt der größte Flächenstaat der Erde bald auch Großbritannien und Italien hinter sich.


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Moskau in Selbstisolation — II

Moskau in Selbstisolation — I

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Ansturm auf die Bankomaten

Der Fall des Ölpreises belastet den russischen Staatshaushalt. Die Bevölkerung versorgt sich in der Coronakrise derweil mit Bargeld.

An schlechten Nachrichten herrscht in Russland derzeit kein Mangel. Die Sars-CoV-2-Infektionsrate steigt dort weltweit am schnellsten, auch wenn das Land nach absoluten Zahlen mit 52 736 diagnostizierten Fällen bislang nur auf Platz zehn liegt. Über die Hälfte davon, nämlich 29 433, wurden am Dienstag in Moskau gemeldet. Doch der Fall des Öl­preises ruft fast mehr Besorgnis hervor; davon hängt ab, wie stark der Staatshaushalt in absehbarer Zeit belastet wird und wie schnell die Reserven dahinschmelzen, die die zu erwartende Rezession abfedern sollen. Die krisenerprobte russische Bevölkerung hegt jedenfalls wenig Vertrauen in die Fähigkeiten der politischen Führung. Nach Angaben der Wirtschaftsnachrichtenagentur Bloomberg übersteigen bei russischen Banken die Bargeldabhebungen seit Anfang März diejenigen des gesamten Vorjahrs. Auf jeden Auftritt von Präsident Wladimir Putin – mal schickte er die Bevölkerung in Zwangsurlaub, mal verlängerte er diesen – folgte ein Ansturm auf Geldautomaten.


«Geschlossen! Für immer…». Foto uw
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«Hilf dir selbst» – mehr hat Putin nicht im Programm

Russland reagiert auf die Coronapandemie mit einem bescheidenen wirtschaftlichen Hilfspaket. Wladimir Putin, der sich sonst gerne als grosszügiger Geber inszeniert, überlässt die Arbeit seinen Gouverneuren.

Nur noch einige wenige Wochen fehlten, und Wladimir Putin wäre mit seiner Sonderoperation ans Ziel gelangt. Dank einer Verfassungsänderung, die selbst das geltende demokratische Mindestmass in Russland ad absurdum führte, wollte er neu bis 2036 als Regierungschef amtieren. Bloss die glanzvolle Zustimmung in einer juristisch irrelevanten Volksabstimmung war noch ausstehend, als die Coronapandemie Russland erreichte. Am 25. März meldete sich der Präsident in einer Ansprache zu Wort und kündete fürs Erste eine landesweite Ferienwoche bei Lohnfortzahlung an. Die Bevölkerung sollte in Ruhe zu Hause der Dinge harren, die noch folgen sollten.


Diszipliniertes Schlangestehen bei MacDonald’s. Foto uw

Ein Drittel der russischen Unternehmen schickten ihre Angestellten allerdings prompt in unbezahlten Urlaub, und über ein Fünftel nahmen Lohnkürzungen vor, so die Angaben des regierungsnahen Zentrums für strategische Studien. Aus einer Woche Lockdown wurden mittlerweile fünf. Читать далее

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