Nach den Bombenanschlägen blühen Verdächtigungen aller Art. Und Grosny wird wieder bombardiert
In Zeiten wie diesen werden zahlreiche Klischees bedient, die über das vom Zerfall geprägte, weithin unregierbare ex-sowjetische Imperium im Umlauf sind. Da helfen auch Erinnerungen an die guten alten Zeiten nicht weiter, als sich Gorbi und Raissa mit Helmut Kohl zum Stelldichein einfanden. Die Schlagzeilen vom Tod Raissa Gorbatschowas konnten in Rußland nur kurzzeitig die Nachrichten über Bombenterror und den beginnenden Krieg gegen Tschetschenien auf den zweiten Platz verweisen. Sehr wohl aber nahmen die Medien die Selbstinszenierung von Jelzins Ehefrau Naina zur Kenntnis, die die Gelegenheit beim Schopf ergriff und annähernd sechs Stunden am Sarg ihrer Vorgängerin weilte. Die Botschaft: Auch der in aller Munde nur «die Familie» genannte Jelzin-Clan nebst engen Vertrauten zeigt ein menschliches Gesicht.
Aber das beeindruckt kaum jemanden. Die seit August letzten Jahres überaus angespannte ökonomische und politische Situation zermürbt die Bevölkerung zusehends. Noch dazu droht ein neuer ausufernder Krieg im Kaukasus; und die Anschläge auf Wohnhäuser in Moskau und Volgodonsk erzeugen ein Klima von Angst und Schrecken. Der Inlandsgeheimdienst FSB verkündete zwar, über genaue Informationen zu verfügen, wer für die Explosionen verantwortlich sei. Bereits mehr als zehn Verdächtige seien in Haft genommen. Doch selbst wenn diese wirklich in Verbindung zu den Anschlägen stehen, ist noch nicht geklärt, wer dahintersteckt.
Die Kremlversion, islamistische Terroristen, die in Verbindung mit den Kämpfen in Dagestan stehen, seien für die Anschläge verantwortlich, weist zumindest einige Ungereimtheiten auf. Experten gehen davon aus, daß die Vorbereitung einer derart großangelegten Anschlagsserie mindestens drei bis vier Monate in Anspruch nimmt; der Konflikt in Dagestan brach jedoch erst im August offen aus. Ungewöhnlich ist zudem, daß die der Anschläge beschuldigten Söldnerführer, der Tschetschene Schamil Bassajew und Khattab, die angeblich durch den international gesuchten islamistischen Terroristen Ussama Bin Laden finanziert würden, jede Verantwortung für die Explosionen ablehnen. Denn ansonsten haben sich Bassajew und seine Mitstreiter immer sofort zu Anschlägen bekannt. Sollte es sich aber um eine kleine unbekannte Gruppierung aus dem Nordkaukasus handeln: Woher kommen dann die Mittel für eine solch mächtige Aktion?
Für zusätzliche Verwirrung sorgten die Ereignisse in der westrussischen Stadt Rjasan. Dort wurde vergangene Woche in einem zwölfgeschossigen Wohnhaus angeblich eine neuerliche Explosion vereitelt. FSB-Chef Nikolaj Patruschew gab am Freitag bekannt, in mehreren Städten seien Sprengstoffladungen zu «Übungszwecken» angebracht worden. Die Polizei in Rjasan habe schnell und zuverlässig reagiert und den Sprengsatz aufgespürt, in anderen Städten jedoch sei weniger gründlich gearbeitet worden. Ob es sich in Rjasan um eine Bombenattrappe oder um einen tatsächlichen Sprengsatz handelte, läßt sich aus den widersprüchlichen Berichten und Äußerungen nicht entnehmen. Jedenfalls sind solche «Übungen» bestens geeignet, eine autoritäre Mobilisierung der Bevölkerung zu erreichen und die — in normalen Zeiten angemessene — Passivität der Staatsbürger in «Wachsamkeit» umzuwandeln.
Am vergangenen Freitag wurden erstmals konkrete Beschuldigungen wegen der Anschläge gegen den Jelzin-Clan laut. Die Zeitung Moskowskij Komsomolez, die dem Moskauer Bürgermeister und mächtigsten Jelzin-Gegner Juri Luschkow nahesteht, publizierte eine Version, wonach die «Familie» im letzten Jahr nach dem Finanzcrash vom 17. August und angesichts des sich weiter verschlechternden Gesundheitszustandes des Präsidenten zwei Möglichkeiten der Machtübergabe in Betracht zog. Die «Familie» favorisierte demnach zuerst die erste der beiden, die vorsah, mittels regulärer Wahlen eine jelzintreue Figur zu pushen. Gleichzeitig hätten aber unter der Leitung des heutigen Premierministers Wladimir Putin die Vorbereitungen für eine gewaltsame Variante begonnen, deren Ziel die Ausrufung des Ausnahmezustandes und die Absage der kommenden Wahlen sein sollte. Mit der Amtseinsetzung Putins sei das Signal für die zweite Variante gegeben worden; das Ausmaß der Terrorakte habe Jelzins Vertraute inzwischen aber vor weiteren Aktionen zurückschrecken lassen.
Weniger heftige Anschuldigungen wurden auch gegen den Tycoon Boris Beresowski — ebenfalls Mitglied von Jelzins Familie — erhoben, der angeblich bereits seit geraumer Zeit tschetschenische Rebellen finanzieren soll. Fest steht, daß nicht mehr viel fehlt, um die Erklärung des Ausnahmezustandes in Rußland zu rechtfertigen. Und weitere Anschläge sind nicht ausgeschlossen.
Die Korruptionsermittlungen sind mittlerweile im internationalen Rahmen auch auf den Präsidenten und sein Umfeld ausgeweitet worden. Sie geben eine gewisse Vorstellung von den Dimensionen und den Folgen einer Machtablösung Jelzins durch einen wenig loyalen oder gar feindlich gesinnten Nachfolger. Und Luschkows Parteiblock mit dem Ex-Premier Jewgeni Primakow an der Spitze werden bei den kommenden Wahlen die größten Chancen eingeräumt.
Die Moskauer Stadtregierung und der Kreml pflegen ihre Rivalitäten schon seit geraumer Zeit. Im Hinblick auf die Bombenexplosionen wirft Premier Putin der Moskauer Polizei mittlerweile verbrecherische Fahrlässigkeit vor. Nach eigenen Angaben verfügt er über Dokumente, aus denen hervorgehe, daß am Vorabend der Explosion eines Wohnhauses im Süden Moskaus bei einer Überprüfung durch die Polizei kein Sprengstoff gefunden wurde.
Besonders hervor tut sich die Moskauer Polizei indessen bei der Jagd auf «Personen kaukasischer Nationalität», wie es im Neurussischen so schön heißt. Ob auf der Straße oder bei illegalen Hausdurchsuchungen — wer nicht die richtige Hautfarbe oder Nationalität besitzt, hat noch weniger Anspruch auf Recht und Gesetz als der gemeine russische Staatsbürger. Reihenweise wurden nach den Explosionen der Wohnhäuser sogenannte Verdächtige verhaftet, in Moskau waren es Mitte September allein über 530 Menschen tschetschenischer Herkunft. Tausende kaukasischer Herkunft wurden bislang aus der Hauptstadt abgeschoben. Beobachter sprechen von 10 000 bis 40 000 Menschen.
Zudem werden derzeit alle erforderlichen Maßnahmen für eine weitere kriegerische Eskalation im Kaukasus getroffen. Die islamistischen Rebellen, die in den vergangenen Wochen von Tschetschenien aus Dagestan mit zwei Offensiven überfielen, sind zwar weitgehend zurückgedrängt. Nun aber ist Tschetschenien das Hauptziel der russischen Militärs. Hatte die alte Regierung unter Sergej Stepaschin neue militärische Interventionen ausgeschlossen, ist Stepaschins Nachfolger Putin offenbar zu allem bereit. Erstmals seit Beendigung des ersten Tschetschenienkriegs wurde am 23. September wieder Grosny, die Hauptstadt der abtrünnigen Kaukasusrepublik, bombardiert.
Seit dem Beschluß der russischen Regierung, in Zukunft auf tschetschenisches Öl zu verzichten und aserbaidschanisches Öl nicht mehr über Tschetschenien zu transportieren, sondern eine neue Pipeline zu bauen, kann die Luftwaffe ohne Bedenken auch Ölraffinerien und andere erdölverarbeitende Betriebe in Tschetschenien bombardieren. Erstmals fand das am Freitag statt. Am Samstag wurde die Fernsehzentrale in Grosny angegriffen, nach Angaben der russischen Nachrichtenagentur Interfax wurde dabei die Einrichtung des Senders zerstört.
Nach Moskauer Medienberichten sind bis Samstag etwa 20 000 Menschen aus Tschetschenien in die benachbarte Republik Inguschetien geflüchtet; das tschetschenische Ministerium für Katastrophenschutz gab an, 300 000 seien aus ihren Häusern geflohen.
Ute Weinmann