Der Präsidenten-Wahlkampf in Russland steht ganz im Zeichen des Tschetschenien-Krieges.
Putin goes online — der Wahlkampf hat begonnen. Seit vergangenem Freitag können alle der russischen Sprache Mächtigen im Internet unter der Adresse www.putin2000.ru nachlesen, wie der Interimspräsident zur Bevölkerung spricht. Unlängst noch erklärte Putin vor Studierenden, dass er sein Programm vor den Wahlen nicht öffentlich machen werde. Seine Wahlstrategen haben sich stattdessen einen offenen Brief an die Wählerschaft ausgedacht. Putin, ein Mann der Tat mit dem Image eines dynamischen Modernisierers, dem Wohlgesonnene Ehrlichkeit und Durchsetzungsvermögen nachsagen, nimmt keine Umwege.
Sein Brief ist eine Ansammlung schöner Worte, die er unter dem Motto: »Für ein würdiges Leben« zusammenfasst. Etwas deutlicher wird Putin bei dem Thema, dem er seinen atemberaubenden Aufstieg zum unangefochtenen Jelzin-Nachfolger verdankt. »Es hat sich für uns gelohnt, in den Kampf gegen die Banditen zu ziehen«, ja, die Festung der kriminellen Welt in Tschetschenien muss fallen. Aber das ist erst der Anfang, droht der Interimspräsident, weitere Schritte sollen folgen.
Pünktlich zum Beginn des Wahlkampfs verkündete er, dass der im offiziellen russischen Sprachgebrauch als »antiterroristische Operation« bezeichnete Krieg nun in seine politische Phase übergehen werde. Während einer Direktschaltung im Petersburger Radiosender »Baltika« stellte er gar Verhandlungen mit Tschetschenien in Aussicht. Dort gebe es Kräfte, die als Verhandlungspartner in Frage kämen. Wer damit gemeint war, blieb offen. Verteidigungsminister Igor Sergejew erklärte unlängst, dass die »terroristischen Gruppierungen« in den Bergen Tschetscheniens bis zur Schneeschmelze vernichtet werden müssen, das heißt pünktlich zur Präsidentschaftswahl. Schließlich soll die gleich in der ersten Runde gewonnen werden.
Nicht, dass sich in der Öffentlichkeit bislang eine deutliche Kriegsmüdigkeit abzeichnen würde. Die Armee hat trotz partieller Zerfallserscheinungen seit dem letzten Tschetschenien-Krieg dazugelernt. Zwar werden wieder junge und dürftig ausgebildete Wehrpflichtige als Kanonenfutter verheizt, aber die stammen dieses Mal bevorzugt nicht aus den großen Städten, sondern aus den von Arbeits- und Perspektivlosigkeit geprägten Regionen der Provinz. So sind Städte wie Moskau mit seiner Mittelschicht, die trotz des Crashs im August 1998 nicht in die Armut abgesunken ist, weniger vom plötzlichen Verschwinden junger Männer in Tschetschenien betroffen.
Und die Medien haben sich in Moskau stärker als in der Provinz seit Beginn des Krieges einer Selbstzensur unterworfen. Nur wenige Blätter, wie beispielsweise die wöchentlich erscheinende Nowaja Gaseta, veröffentlichen regelmäßig kritische Beiträge gegen den Krieg, und selbst da unterscheiden sich die Moskauer Ausgaben von den in anderen Städten erscheinenden durch ihre zurechtgestutzten Inhalte.
Wo sich 1994 gleich nach dem Einmarsch russischer Truppen nach Tschetschenien eine offen auftretende Antikriegsopposition gebildet hatte, musste man dieses Mal danach lange suchen. Gründe dafür gibt es zuhauf: vom Zerfall politischer Strukturen an der Basis über die erfolgreiche, staatlich initiierte Diskreditierung aller Tschetschenen bis zu imperialen Sehnsüchten und dem Wunsch nach einer starken Macht, die dem politischen und geistigen Zerfall Russlands etwas entgegensetzen soll.
Das heißt aber nicht, dass es keine Initiativen gegen den Krieg gibt. Mit zunehmender Dauer des Krieges und dem Durchsickern von Gräuelmeldungen über die Folterung von Menschen in den so genannten Filtrationslagern, vor allem aber durch den Fall des Journalisten Andrej Babitsky, erwachte zumindest ein Teil der Intelligenz und der Menschenrechtler aus seiner Lethargie.
Babitsky, der für Radio Svoboda, den russischsprachigen Ableger des ehemaligen Kalte-Kriegs-Senders Radio Free Europe, aus dem tschetschenischen Kriegsgebiet berichtete, verschwand am 16. Januar zunächst spurlos. Nach Zeugenaussagen soll er dann in eines der berüchtigten Filtrationslager eingeliefert worden sein. Später erschienen ungereimte Berichte und gefälschtes Videomaterial von russischen Behörden, wonach er am 3. Februar gegen russische Soldaten ausgetauscht worden ist, Einzelheiten blieben jedoch im Dunkeln.
Die vermutliche Fälschung legt den Verdacht nahe, dass der unbequeme Zeuge Babitsky beseitigt und die Schuld dafür der tschetschenischen Seite in die Schuhe geschoben werden sollte. Inzwischen ist er in der dagestanischen Hauptstadt Machatschkala wieder aufgetaucht. Nach Angaben des dagestanischen Innenministeriums wurde er am Freitag bei einer Routinekontrolle festgenommen; er habe versucht, nach Aserbaidschan zu entkommen. Babitsky wurde zumindest bis zum Wochenende unter dem Vorwand festgehalten, einen gefälschten aserbaidschanischen Pass besessen zu haben.
Mitte Februar hatten seine Journalistenkollegen in Moskau die erste Kundgebung gegen den Krieg mit über 100 Teilnehmern organisiert und ausführlich über seinen Fall berichtet. Sie sahen durch das Verschwinden Babitskys das höchste Gut der Liberalen, das freie Wort, in seinen Grundzügen gefährdet.
Weniger engagiert zeigen sie sich bei den Kundgebungen, die das Ende Januar wieder ins Leben gerufene und während des ersten Tschetschenien-Krieges aktive Komitee für Antikriegs-Aktivitäten organisiert. Das Komitee vereinigt eine bunte Vielzahl unterschiedlichster Organisationen, Gruppen und Einzelpersonen, von der Menschenrechtsorganisation Memorial und den Soldatenmüttern über diverse antimilitaristische Vereine, einem Ableger der italienischen Transnationalen Radikalen Partei bis zur anarchistischen Antikriegsbewegung, die darüber hinaus einmal pro Woche eigene Kundgebungen durchführt. Eine merkwürdige Allianz also, deren Weiterbestehen nicht garantiert ist.
Mit vereinten Kräften gelang es vor einer Woche, über 500 Kriegsgegner zu einer Demonstration in der Moskauer Innenstadt hin zum berühmt-berüchtigten Gebäude des KGB-Nachfolgers FSB zu mobilisieren. Sie warfen der Regierung vor, dass der Krieg die »direkte Folge einer unüberlegten Politik in Tschetschenien in den Jahren 1996 bis 1999« sei, und forderten die sofortige Einstellung der Kriegshandlungen sowie den Beginn von Verhandlungen mit der tschetschenischen Seite.
Auch Kommunisten wie beispielsweise Viktor Anpilows Werktätiges Russland, das zur Duma-Wahl als »Stalinblock« angetreten war, verurteilen den Krieg in Tschetschenien, zu mehr als Äußerungen im Parteiblatt hat es bei ihnen aber noch nicht gereicht.
Zupackender sind da die russischen Behörden. Am Freitag fasste der Sicherheitsrat im Kreml einen Beschluss, der für Tschetschenien in den kommenden Jahren faktisch den Status einer Kolonie auf russischem Territorium vorsieht. Der Machtapparat soll komplett von Moskau aus gesteuert werden, um den Fluss von Budgetmitteln kontrollieren zu können. Die Bestimmung des rechtlichen Status der kleinen Kaukasus-Republik soll auf den Zeitpunkt der »völligen Stabilisierung« der Lage verschoben werden. Das kann dauern. Derweil sorgt sich die tschetschenische Diaspora in Moskau vor allem darum, ob der Kreml bereit ist, Tschetschenen an der Macht zu beteiligen, und beispielsweise der Entsendung von Stellvertretern in das geplante Komitee zur Wiederherstellung der Wirtschaft zustimmt.
Ute Weinmann