Tod und Terror in «Nord-Ost»

Die Geiselnahme in Moskau wurde mit vielen Opfern beendet. Eine neue tschetschenische Generation handelt nach dem Modell des Jihad.

Allzu gern gibt man sich in Moskau der Illusion hin, in einer »zivilen« Metropole zu leben. Kriege und Katastrophen spielen sich woanders ab, weit weg, jedenfalls nicht vor der eigenen Haustür. Selbst die Explosion einer Bombe in einem Auto am südwestlichen Stadtrand vor einem der zahlreichen McDonald’s-Läden, die unlängst ein Todesopfer und zahlreiche Verletzte forderte, bringt die von einem neuen Selbstbewusstsein beflügelten Moskauer nicht aus dem Takt. Und man ist stolz darauf, dass Moskau inzwischen mit »Nord-Ost« ein eigenes, ein echtes russisches Musical mit patriotischem Einschlag hat.

Dass es mit der Sicherheit in der russischen Hauptstadt nicht allzu weit her ist, mussten am Mittwoch der vergangenen Woche diejenigen erfahren, die glaubten, der bereits über drei Jahre andauernde Krieg in Tschetschenien lasse sich auf die Kaukasusregion begrenzen. Nach einer Phase relativer Ruhe, in die der bewaffnete Konflikt nach dem russischen Zwischenspiel in Georgien eingetreten war, war die Geiselnahme von 1 000 Menschen durch mehr als 50 tschetschenische Rebellen, unter ihnen 18 Frauen, in dem eigens für »Nord-Ost« umgebauten ehemaligen Kulturhaus einer Kugellagerfabrik unweit des Stadtzentrums ein Schock.

Nur einigen Schauspielern und Zuschauern gelang die Flucht aus dem Gebäude, in dem das tschetschenische Kommando unter dem Anführer Mowsar Barajew gleich nach der Besetzung Sprengstoff deponierte, der ausgereicht hätte, das komplette Theater in die Luft zu sprengen. Genau das kündigte das Terrorkommando an, sollte der Kreml den Forderungen, innerhalb von sieben Tagen mit dem Abzug der föderalen Streitkrafte aus Tschetschenien zu beginnen, nicht nachkommen.

Nun liegt es wohl in der Natur der Sache, dass bei einer Geiselnahme zu allererst über eine schnellstmögliche und unblutige Beendigung derselben nachgedacht wird. Aber trotz des eindeutigen Zusammenhangs der Geiselnahme mit der völlig verfehlten und gewaltsam russischen Politik im Nordkaukasus sollte offenbar eine öffentliche Diskussion über den Gegenstand der Forderungen der Geiselnehmer, den Krieg in Tschetschenien, der offiziell keiner ist, unterbunden werden.

In der Berichterstattung aller Fernsehsender, einschließlich des als liberal geltenden NTV-Nachfolgers TVS, wurden kritische Stimmen regelrecht abgewürgt. Als es in der ersten Nacht des Geiseldramas einer Frau aus dem Zuschauersaal gelang, per Handy bei TVS anzurufen, stellte sie die Geiselnahme in einen direkten Zusammenhang mit der Kaukasuspolitik des Kreml und gab zu verstehen, dass alle im Saal anwesenden Geiseln dieser Politik eindeutig kritisch gegenüberstünden. Der Nachrichtensprecher unterbrach die Frau umgehend mit der besorgten Nachfrage, ob genügend Trinkwasser und Verpflegung zur Verfügung stehe.

Nach ergebnislosen Gesprächen mit verschiedenen Verhandlungspartnern, zu denen u.a. der ehemalige Premier Jewgenij Primakow gehörte, kündigte das tschetschenische Kommando für den frühen Samstagmorgen erste Erschießungen von Geiseln an. Als noch vor dem angegebenen Zeitpunkt Schüsse aus dem Theater zu hören waren, beschloss der Krisenstab die Stürmung des Gebäudes, so die offizielle Version.

Doch sind Zweifel daran durchaus angebracht. Denn entgegen den Beteuerungen des Präsidenten Wladimir Putin und seiner Mannschaft, das Leben der Geiseln stehe an erster Stelle, ergibt die Bilanz des Geschehens ein anderes Bild. Nach Angaben des Gesundheitsministeriums kamen über 118 Geiseln ums Leben, der Großteil offenbar durch den Einsatz eines Betäubungsgases, das die Sicherheitstruppen vor der Stürmung in den Saal einleiteten. Außerdem wurden 50 Mitglieder des Terrorkommandos getötet, darunter alle Frauen. Einige wenige konnten angeblich entkommen, drei wurden festgenommen.

Dass der Kreml keineswegs die Gefahr eines Ansteigens des islamistischen Radikalismus wegen der fortschreitenden »Säuberungen« in Tschetschenien reflektiert und nun lediglich damit beschäftigt ist, die Schuldigen für das Drama in der Umgebung des von Moskau nicht anerkannten, aber 1997 gewählten tschetschenischen Präsidenten Aslan Maschadow zu suchen, stellt unter Beweis, dass Putin zur Wahrung seines Images als junger, starker und handlungsfähiger Präsident bereit ist, auch Opfer in der Hauptstadt in Kauf zu nehmen.

Die Stürmung des Theaters schien notwendig, damit dieses Bild keinen Kratzer erhält. Ein Hinauszögern der Entscheidung und anhaltende Verhandlungen hätten womöglich Verständnis für die Forderungen der Terroristen in der russischen Bevölkerung hervorgerufen. Diese Tendenz zeichnete sich bereits ab. Der stellvertretende Innenminister Wladimir Wassiljew gab bekannt, der Kreml habe sich weitestgehend auf die Forderungen der Geiselnehmer eingelassen, doch wurde die von den Terroristen geforderte Demonstration gegen den Tschetschenienkrieg am vergangenen Freitag auf dem Roten Platz verboten. Denn andernfalls hätte man einen symbolischen Angriff auf die unantastbare Staatsmacht geduldet.

Das Tschetschenien-Problem ist mit der Beendigung der Moskauer Geiselnahme nicht aus der Welt geschafft. In den vergangenen Monaten sollte in Tschetschenien eine Normalität vorgespiegelt werden, die es nicht gibt und in absehbarer Zukunft nicht geben wird. Mit von Moskau eingesetzten treuen Vasallen versuchte Putin, Stabilität in Tschetschenien herzustellen. Doch verfügt der ehemalige Mufti und jetzige Verwaltungschef Achmed Kadyrow über keinerlei Einfluss auf die verschiedenen kämpfenden Einheiten. Maschadow, dessen Positionen als gemäßigt gelten, wurde von Moskau als offizieller Verhandlungspartner immer abgelehnt, was zu einer Schwächung seiner Person und zu einer Annäherung an die islamistischen Warlords wie Schamil Bassajew beitrug.

Nachdem der unter dem Kommando von Bassajew stehende Mowsar Barajew der Sunday Times erklärt hatte, er stehe unter dem Befehl von Maschadow, versuchte der russische Inlandsgeheimdienst, dies mit einem Video zu belegen, das einige Tage vor der spektakulären Geiselnahme aufgezeichnet und am Freitag abend auf ORT gesendet wurde. Darin erklärt Maschadow, dass der Partisanenkrieg in eine neue Phase eingetreten sei und eine einzigartige Operation bevorstehe.

Doch in einem Interview mit der russischen Tageszeitung Kommersant bestreitet der Repräsentant des Präsidenten, Achmed Zakajew, dies vehement. Die tschetschenische Regierung verurteile Terrorakte gegen die Zivilbevölkerung, die Geiselnahme sei eine Verzweiflungstat. Einem Sprecher des Kreml zufolge führe überdies eine Spur in eine nicht näher bezeichnete arabische Botschaft, wo jemand mit den Geiselnehmern telefoniert habe.

Beachtung verdient auch der Umstand, dass in Tschetschenien, wo die Bevölkerung sich traditionell vom radikalen Islamismus distanziert, inzwischen eine neue Kämpfergeneration herangewachsen ist, die keine sowjetische Sozialisation mehr durchlebt hat wie ihre Vorgänger Bassajew und Maschadow. Ihr Vorgehen orientiert sich am Modell des Jihad, es ist härter, unerbittlicher und wird die Kluft gegenüber Moskau vergrößern.

So hat diese Geiselnahme nichts bewirkt, was einen Truppenabzug beschleunigen könnte. Nach dem Tod der Geiseln dürfte die russische Bevölkerung noch weniger Verständnis für die Tschetschenen aufbringen, und in Tschetschenien selbst haben bereits Sondereinsätze russischer Spezialeinheiten begonnen.

Ute Weinmann

http://jungle-world.com/artikel/2002/44/22995.html

 

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