Mit einem Referendum will die russische Regierung demonstrieren, dass sich die Lage in Tschetschenien normalisiert. Doch bereits die Vorbereitungen zeigen, dass die Abstimmung manipuliert wird.
Russland will sich in der Irakfrage als Friedensmacht beweisen, ist aber kaum internationaler Kritik wegen seines Tschetschenienkrieges ausgesetzt. Trotz der erstaunlichen Ruhe sieht sich die russische Führung gegenwärtig gezwungen, propagandistisch in die Offensive zu gehen und den Krieg als Demokratisierungsprozess zu verkaufen.
Dass ein wenig PR zum richtigen Zeitpunkt Probleme lindern hilft, die anderweitig nicht in den Griff zu bekommen sind, hat man im Kreml längst erkannt. Sich um die tatsächlichen Auswirkungen des Tschetschenienkrieges oder, wie es im offiziellen Jargon heißt, der »antiterroristischen Operation« auf die russische Gesellschaft zu scheren, steht nicht zur Debatte. Doch die politische Führung Russlands kann vor den Präsidentschaftswahlen im Frühjahr 2004 die Kriegsmüdigkeit der Bevölkerung nicht mehr ignorieren.
Wladimir Putin war vor drei Jahren mit dem Versprechen angetreten, dem Treiben der tschetschenischen Rebellen in der kleinen Kaukasusrepublik ein schnelles Ende zu bereiten. Daraus wurde bekanntlich nichts.
In absehbarer Zukunft sind dennoch keine Proteste gegen die Moskauer Kaukasuspolitik zu erwarten, denn die meisten Russen geben sich derzeit völlig apolitisch. Doch war spätestens seit dem Geiseldrama in dem Musicaltheater im vergangenen Oktober (Jungle World, 45/02) der Punkt erreicht, an dem Initiative auf höchster Ebene gefragt war.
Eine solche kam schließlich aus der Präsidialverwaltung vom stellvertretenden Kanzleichef und Verantwortlichen für Innenpolitik, Wladislaw Surkow, in Form der Neuauflage eines Referendums über eine neue Verfassung der Republik Tschetschenien. Sollte diese angenommen werden, so der Grundgedanke, könnte eine Basis für gleichzeitig mit den Dumawahlen im Dezember stattfindende Wahlen geschaffen und dem vor sechs Jahren zum Präsidenten der Republik gewählten General Aslan Maschadow die Legitimität entzogen werden. Von Frieden spricht längst niemand mehr, aber zumindest formal stünde dann in der in weiten Teilen zerstörten Region alles bestens – und einem neuerlichen Sieg Putins nichts mehr im Wege.
Gesagt, getan. Die Vorbereitungen für die Volksabstimmung, die am 23. März stattfinden soll, laufen auf Hochtouren. Der eigens geschaffene Propagandasender Freies Tschetschenien wirbt für die zahlreiche Teilnahme, und es werden gar Überlegungen angestellt, 100 000 noch in Inguschetien verbliebene Flüchtlinge am Tag X an die Grenze zu karren, weil sie ansonsten keine Stimmberechtigung erhalten. Und das Verteidigungsministerium kündigte Anfang März den Abzug von 1 270 Soldaten an, um der »anhaltenden Tendenz zu einer Normalisierung der Lage« Rechnung zu tragen, und inszenierte medienwirksam den Abbau erster Kontrollposten. Mehr als 80 000 Soldaten und Polizisten bleiben jedoch in Tschetschenien stationiert.
Bundeskanzler Gerhard Schröder äußerte sich bereits Ende 2002 während des letzten EU-Russland-Gipfels in Brüssel wohlwollend über das geplante Referendum. Dann wäre das leidige Thema Tschetschenien endlich vom Tisch, mag der Kanzler gedacht haben, und man könnte sich ungestört wichtigeren Dingen zuwenden. Der Europarat und die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) blicken jedoch weitaus skeptischer auf das Vorhaben der Russen und kritisieren die mehr als zweifelhaften Vorbereitungen der Abstimmung.
In Russland blieben kritische Reaktionen die Ausnahme. Die Sicherheitskräfte fürchten offenbar nicht, dass die angekündigte »Selbstverwaltung« nach dem Referendum ihren Einfluss schwächen könnte. Bislang waren lediglich von der zentralen Wahlkommission Einwände in Bezug auf die Durchführung zu vernehmen. Und tatsächlich gab es nicht zu leugnende Ungereimtheiten. Denn waren laut offiziellen Angaben bei der letzten Volksabstimmung vor dem Krieg 450 000 Menschen bei einer Gesamtbevölkerung von etwa 800 000 wahlberechtigt, so sollen diesmal 600 000 Tschetschenen ihre Stimme abgeben dürfen, da von der Volkszählung im vergangenen Jahr angeblich 1 088 000 Einwohner erfasst wurden.
Die Menschenrechtsorganisation Memorial geht jedoch von mindestens 200 000 Toten infolge der Kriegshandlungen der föderalen Truppen und der so genannten Säuberungen aus und schätzt demnach die reale Einwohnerzahl auf lediglich 600 000.
Die toten Seelen werden als Wähler registriert. Die Opfer der russischen Kriegsführung sollen nun posthum ihr Einverständnis zur Regulierung der Machtaufteilung im Sinne des Kreml geben. Ein Urnengang der besonderen Sorte.
Was die noch lebenden Tschetschenen über das Referendum denken, ist für den Kreml zweitrangig und hat praktisch keine Folgen für den Ausgang der Volksabstimmung. Der von Moskau eingesetzte tschetschenische Statthalter Achmed Kadyrow und sein Clan agieren alles andere als unabhängig, und die im Land gebliebene oder aus den inguschischen Flüchtlingslagern zwangsweise umgesiedelte tschetschenische Bevölkerung ist dermaßen terrorisiert und verunsichert, dass allein die Furcht vor Vergeltung ein Garant für ihre Beteiligung an der Inszenierung ist. Im Verhältnis zur Bevölkerungszahl gibt es in Tschetschenien inzwischen mehr Tote und Verschwundene als in der Sowjetunion zur Zeit des stalinistischen Terrors.
Tschetschenische Bürgerrechtler wandten sich indes an Präsident Putin mit der Bitte, die Vorbereitungen auf das Referendum einzustellen. In einer am 2. März veröffentlichten Erklärung Ruslan Badalovs, des Vorsitzenden des Tschetschenischen Komitees zur nationalen Rettung, heißt es: »Ein Referendum in Tschetschenien ist notwendig, aber nicht in der Form, wie dies derzeit die russischen Machthaber versuchen.« Das Komitee und die wenigen aktiven Kriegsgegner in Russland fordern schon seit langem Verhandlungen zwischen den beiden Seiten.
Doch trotz anhaltender Kämpfe, spektakulärer Anschläge und hoher russischer Verluste – das Komitee der Soldatenmütter schätzt sie auf 10 000 getötete Soldaten – setzt die Armee auf einen militärischen Sieg im Kaukasus. Verhandlungen mit den tschetschenischen Rebellen und Maschadow lehnt sie strikt ab. Putin selbst ist ein Taktierer und um Ausgleich bemüht, da er ohne Rückhalt im Generalstab und in den Sicherheitsdiensten nicht agieren kann und in deren Augen durch die Annäherung an die USA nach dem 11. September ohnehin bereits Punkte verloren hat. Ein Manöver hat sich jedoch bewährt, nämlich die Abschiebung allzu einflussreicher und relativ populärer Generäle wie Wladimir Schamanow oder Wiktor Kasanzew auf bedeutungslose politische Posten.
Die Ruhe der Generäle lässt sich folglich dadurch erklären, dass das Referendum in Tschetschenien die Regeln des Kriegsmanagements in keiner Weise beeinflusst. Die Truppen mögen reduziert und die Kompetenzen teils an das Innenministerium abgegeben werden, doch die Warlords werden weiter kämpfen, Maschadow wird weiter an Einfluss verlieren, und an eine Beendigung des Bürgerkriegs ist nicht zu denken.
Ute Weinmann