In der Kaukasusrepublik bleibt alles beim Alten
Über die Ereignisse im Irak berichten russische Medien bereitwillig und in aller Ausführlichkeit. So ist es ein Leichtes, sich mit Informationen über die Entführung und Ermordung russischer Staatsbürger im Nahen Osten einzudecken — Empörung und Fassungslosigkeit ob derart dreister Angriffe auf den «großen russischen Freund» inklusive. Jedenfalls gestaltet sich dies um ein Vielfaches leichter, als sich ein reales Bild über die Vorkommnisse im heutigen Tschetschenien zu machen und die dortigen Toten zu zählen, welche in der Mehrzahl — sieht man von den importierten Kämpfern auf Seiten der Separatisten ab — ebenfalls über einen russischen Pass verfügten.
Aus Moskau hört man seit geraumer Zeit Beteuerungen, die Verhältnisse in der kriegsgeschüttelten Region hätten sich weitgehend normalisiert. Zu den Indizien, die zur Untermauerung dieser Verlautbarungen angeführt werden, gehören so aufwendige Inszenierungen der Kremlstrategen wie das Referendum über eine neue Verfassung vom März 2003, welches angedacht war, den Verbleib der Republik innerhalb der Russischen Föderation zu sichern, oder die Präsidentschaftswahlen vom Oktober vergangenen Jahres. Ebenso zählen dazu die Attribute eines normalen Alltags in der Region: die Wiederinbetriebnahme der direkten Zugverbindungen zwischen Moskau und Grozny Ende Mai nach fast fünfjähriger Pause, der Ausbau des Mobilfunknetzes, das neue Wappen für die Republik und zu guter Letzt die neue Hymne. Als genialen PR-Schachzug kann man zudem wohl die Meldung über den Sieg der tschetschenischen Fußballmannschaft «Terek» beim Endspiel um den russischen Pokal werten. «Terek» darf nun beim UEFA-Cup mitspielen und auf europäischer Ebene demonstrieren, dass es entgegen hartnäckiger Behauptungen einer Hand voll DefätistInnen um Tschetschenien so schlecht nicht bestellt sein kann.
Darüber hinaus sollen seit diesem Frühjahr zunehmende Siegesmeldungen angesichts von Waffenniederlegungen und Todesfällen einiger hochrangiger Feldkommandeure und Vertrauter des einst zum Präsidenten gewählten Separatistenführers Aslan Maschadow Glauben machen, der militärische Sieg über die «Banditen und Terroristen» hätte praktisch bereits stattgefunden. Doch gleichzeitig lassen die Meldungen über durch Minen oder in Hinterhalten getötete und verwundete russische Soldaten nicht nach. Tod, Folter und das «Verschwinden» von ZivilistInnen hingegen werden geleugnet oder vertuscht. Gelangen dennoch Informationen hierüber an die Öffentlichkeit, ist den zuständigen Behörden kein Argument zu schade, die Vorwürfe abzuwehren.
Normalisierung als PR-Trick
Als beispielsweise am 8. April der in bergigem Gebiet unweit der Grenze zu Dagestan gelegene Einsiedlerhof Rigachoj aus der Luft bombardiert wurde, wobei eine Frau und fünf ihrer Kinder ums Leben kamen, verwies das Kommando der Luftwaffe dreist auf die zuständige Staatsanwaltschaft. Diese wollte festgestellt haben, dass die Familie durch eine Sprengmine umgekommen sei — obwohl bei den Opfern weder die dafür typischen Verletzungen zu sehen waren noch die auf einem Teil des Sprengsatzes erhaltene Kennziffer überprüft worden war. An jenem Tag, hieß es, seien schließlich keine Einsätze geflogen worden. Dem war tatsächlich so, nur war das Todesdatum zuvor auf den 9. April verlegt worden.
Ähnliches gilt für die am 9. April in Serzhen-Jurt in der gleichen Region aufgefundenen Leichen, welche Spuren von Folter aufwiesen und offensichtlich eines gewaltsamen Todes gestorben waren. Acht der neun Toten waren am 27. März von russischen Einheiten in Schützenpanzern verschleppt worden. AnwohnerInnen hatten die Spur bis zum russischen Hauptmilitärstützpunkt in Chankala verfolgt. Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch legte der Staatsanwaltschaft später eine Kopie der Ermittlungsergebnisse über den Verbleib der Entführten vor. Doch trotz zahlreicher anders lautender Beweise wurde im zuständigen Stab der russischen Antiterroreinheit steif und fest behauptet, es hätte sich um einen Vergeltungsakt der Bojewiki (tschetschenische Kämpfer, Rebellen) gehandelt, deren Forderungen nach Verpflegung im Herkunftsort der Toten nicht erfüllt worden seien.
Über 2.500 EinwohnerInnen Tschetscheniens gelten derzeit als vermisst. Es bleibt vor allem Frauen vorbehalten, Nachforschungen anzustellen, aber nur in wenigen Fällen sind die Mühen von Erfolg gekrönt. Nicht selten entwickeln sich dabei spontane Protestkundgebungen. Am 2. Juni versammelten sich etwa 150 bis 200 Frauen im Regierungsviertel in Grozny zu einer Protestaktion mit der Forderung, den Aufenthaltsort ihrer im Verlauf von sogenannten «Säuberungen» durch russische Sicherheitsstrukturen verschleppten Angehörigen aufzudecken. Doch anstatt das Anliegen der Protestierenden ernst zu nehmen, empfing ein hochrangiger Mitarbeiter des Innenministeriums die Frauen mit dem Satz: «Ich merke mir alle; wir werden schon mit Ihnen fertig». Diese Äußerung provozierte einen Sturm der Entrüstung. Es flogen Steine, und den Frauen gelang es schließlich, die Absperrung zu durchbrechen und zum Haus der Regierung vorzudringen. Armeeangehörige und Wachschutz gaben Warnschüsse in die Luft ab und begannen, brutal auf die Frauen einzuschlagen; einige trugen zum Teil erhebliche Verletzungen davon. Der Sekretär des tschetschenischen Sicherheitsrates, Rudnik Dudajew, rechtfertigte das harte Vorgehen gegen die «Mütter von Banditen» damit, dass sich in der Menge womöglich Bewaffnete aufgehalten hätten mit dem Ziel, nach dem Durchbruch das Regierungsgebäude zu attackieren. In anderen Fällen hingegen, wie z.B. im vergangenen Jahr im Ort Samaschki, erreichte die Bevölkerung bei Androhung eines Boykottes der Präsidentschaftswahlen die Rückgabe einer durch russische Einheiten verschleppten jungen Frau.
Repression gegen «Mütter von Banditen»
Mit der Inszenierung der Präsidentschaftswahl im Oktober 2003 verschaffte der Kreml dem inzwischen getöteten Achmad Kadyrow die bis dahin fehlende Legitimation. 1995 hatte der gerade zum Großmufti avancierte Kadyrow Moskau den Jihad erklärt. Zu Beginn des zweiten Tschetschenienkrieges 1999 stellte er sich jedoch gegen die Separatisten und profilierte sich als überzeugter Gegner islamisch-fundamentalistischer Strömungen, wie sie insbesondere von Leuten wie dem Feldkommandanten der Rebellen Schamil Basajew benutzt werden (1). Ebenjener zeichnete schließlich im Internet verantwortlich für das Attentat im Stadion von Grozny, dem Kadyrow am 9. Mai diesen Jahres zum Opfer fiel.
Als Kadyrow im Juni 2000 ins Amt eines Moskauer Statthalters in Tschetschenien gehoben wurde, galt er als eher schwache und leicht steuerbare Figur. Immerhin stand er für ein Szenario, wonach der faktische Kriegszustand weitgehend aus der Moskauer Umgebung verbannt und die weitergehende Regulierung des Konflikts in die Verantwortlichkeit tschetschenischer Kräfte gestellt werden sollte. In Russland standen Duma- und Präsidentschaftswahlen bevor, welche auf keinen Fall gefährdet werden durften. Die Übergabe von Vollmachten an unterschiedliche tschetschenische Sicherheitskräfte für den Kampf gegen die Bojewiki provozierte indes vor allem brutale Anwendung von Gewalt. Zwar schien die zentrale Kontrolle der tschetschenischen Einheiten durch den russischen Antiterrorstab gewährleistet; tatsächlich verstärkte sich jedoch die Macht des am wenigsten kontrollierbaren präsidialen Sicherheitsdienstes. Diese etwa 1.500 bis 2.000 Mann zählende faktische Privatarmee wird von Achmad Kadyrows Sohn Ramzan kommandiert und setzt sich zu einem Großteil aus amnestierten Bojewiki zusammen.
Die Amnestierung führte somit von Moskau toleriert zu einer quasi Legalisierung ehemaliger Kämpfer in Verbänden des Innenministeriums unter dem neuen Oberhaupt Kadyrow. Dessen Position erfuhr hierdurch wie durch das Präsidentschaftsamt von Moskaus Gnaden eine enorme Stärkung. De facto morden die neu gegründeten Einheiten nun staatlich sanktioniert weiter; teils werden alte Rechnungen beglichen, teils Lösegelder für «Verschwundene» eingetrieben. Nicht selten tauchen die Namen Entführter später in den Listen des russischen Antiterrorstabes als Bojewiki auf. Zudem decken die «Kadyrowtsy» nach Angaben von MitarbeiterInnen der Bürgerrechtsorganisation Memorial, welche über ein gut ausgebautes Netz an BeobachterInnen in Tschetschenien verfügt, kriminelle Geschäfte, die von der illegalen Ausfuhr von Metallen bis zur Erdölgewinnung und -weiterverarbeitung reichen, und verdienen kräftig daran mit.
Die Präsidentschaftswahlen hätten dem Kreml die Möglichkeit gegeben, Kadyrow durch eine einfacher zu handhabende Figur zu ersetzen, z. B. durch einen Vertreter der tschetschenischen Diaspora, wie den Geschäftsmann Malik Sajdullajew. Wäre jener nicht aus der Kandidatenliste verbannt worden, hätte die Wahlen zudem wenigstens ein Hauch von Demokratie umgeben. Doch das Kräftemessen innerhalb des Moskauer Machtzentrums ließ seinerzeit keine strategischen Entscheidungen zu.
Präsident von Moskaus Gnaden
Durch den Tod Kadyrows entsteht nun ein Machtvakuum, welches der Kreml auf die Schnelle zu füllen nicht im Stande sein wird. Nicht weil sich keine geeigneten Nachfolger finden ließen, sondern weil die Moskauer Führung seit Jahren versucht, die verheerende Lage in Tschetschenien mit Ad-hoc-Maßnahmen in den Griff zu bekommen. Über langfristige Strategien zur Bewältigung der Dauerkrise in der kriegsgeschüttelten Region verfügt sie nicht. Nun steht Präsident Putin zwar im Zugzwang, doch scheint es auf die heikle Frage nach einem geeigneten Nachfolger für Kadyrow bislang keinerlei Antwort zu geben. «Für den Kreml galt Kadyrow als einzige Lösung, es gab keine Ersatzvariante», kommentiert der russische Politologe und Linkssozialist Boris Kagarlitzky die Lage.
Für den 29. August stehen wieder Präsidentschaftswahlen an. Der erst 27-jährige Ramzan Kadyrow galt in der ersten Not als geeigneter Kremlkandidat. Man erwog sogar, die tschetschenische Verfassung ändern zu lassen, da die Altersgrenze für eine Aufstellung zur Wahl bei 30 Jahren liegt. Erste Maßnahmen für eine breit angelegte Unterstützungskampagne in Tschetschenien waren bereits getroffen, als sich Kadyrow öffentlich gegen eine Kandidatur aussprach. Nun darf erneut spekuliert werden, wer das Vertrauen des Kreml genießt, gleichzeitig über die für eine Zusammenarbeit mit Militär, FSB und ziviler Verwaltung erforderlichen Qualifikationen verfügt und darüber hinaus eine gemeinsame Sprache mit den verschiedenen tschetschenischen Clans, den «Teips», findet. Als ein möglicher Nachfolger wird derzeit der aus dem KGB kommende Oleg Zhidkow gehandelt, der unlängst von Putin zum stellvertretenden Sonderbevollmächtigten für das südliche Russland ernannt wurde.
Außerdem erklärte Bislan Gantamirow seine Absicht zu kandidieren. Der frühere Bürgermeister von Grozny und Ex-Presseminister Tschetscheniens trat bei den vergangenen Präsidentschaftswahlen selbst nicht an, sondern setzte auf den Moskauer Geschäftsmann Hussein Dzhabrailow, was ihn letztlich sein Amt kostete. Dzhabrailow zog nämlich damals seine Kandidatur zurück, offenbar auf Wunsch hochrangiger Vertreter der Kremladministration. Für die Wahlen im August wird Dzhabrailow erneut als potenzieller Kandidat gehandelt, ebenso Malik Sajdullajew, welcher während des letzten Wahlkampfes mittels einer Klage ausgeschaltet worden war. Auch scheint unter anderem eine wiederholte Beteiligung des derzeitigen Sonderbeauftragten Putins für den Nordkaukasus, Aslambek Aslachanow, nicht unmöglich, zumindest machen sich Teile des russischen Sicherheitsapparates für ihn stark. Doch egal wer im Zuge von Neuwahlen das Präsidentenamt erringt: Die Einbeziehung möglichst breiter gesellschaftlicher Kreise mit dem Ziel der Beendigung des faktischen Kriegszustandes in Tschetschenien steht derzeit nicht auf der Tagesordnung.
Russland wurde indes für seine spezifische Art der Terrorbekämpfung belohnt. Ende Mai beschloss der Sicherheitsrat der UNO, Russland den Vorsitz der Antiterrorkommission bis zum 1. Januar 2005 anzuvertrauen.
Ute Weinmann
Anmerkung:
1) Die Rede ist vom «Wahhabismus», der offiziellen Staatsdoktrin Saudi-Arabiens, deren tschetschenische Variante allerdings nur entfernt Ähnlichkeiten aufweist.
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