Für den Überfall auf Inguschetien macht die russische Regierung Tschetschenen verantwortlich. Doch ohne inguschetische Unterstützung wäre die Aktion nicht möglich gewesen.
Der Innenminister Inguschetiens wurde erschossen, die meisten der nach offiziellen Angaben 98 Toten waren Soldaten, und fast alle Täter entkamen nach dem Angriff von vergangener Woche. Kurz, für die russische Regierung ist der spektakuläre Überfall auf Inguschetien ein politisches und militärisches Fiasko. Doch Verteidigungsminister Sergej Iwanow mochte nur einräumen, dass »unsere militärische Bereitschaft erhöht werden muss, denn sie ist nicht auf dem erforderlichen Niveau«.
In den vergangenen Jahren machten düstere Prognosen über die Zukunft der kleinen Nachbarrepublik Tschetscheniens regelmäßig die Runde. Doch sowohl aus Regierungskreisen in Inguschetien als auch aus Moskau ertönten beharrlich Beteuerungen, man hätte alles im Griff und würde eine »Tschetschenisierung« Inguschetiens niemals zulassen.
Doch der Krieg in Tschetschenien hat längst seine Kreise über alle Grenzen hinweg gezogen. Inguschetien gilt als Rückzugsgebiet der tschetschenischen Bojewiki (Kämpfer), Entführungen stehen dort ebenso auf der Tagesordnung wie andere aus dem tschetschenischen Alltag bekannte Gewaltakte. Anfang April kam der Präsident Inguschetiens, Murat Zjazikow, bei einem Attentat nur durch Glück mit dem Leben davon. Wenige Tage später zeichnete der tschetschenische Feldkommandant Schamil Bassajew im Internet verantwortlich für den missglückten Anschlag: Zjazikow sei bereits im Februar wegen seiner engen Kooperation mit den russischen Sicherheitskräften von einem militärischen Feldgericht zum Tode verurteilt worden.
In der Nacht zum 22. Juni schließlich drang eine Gruppe von etwa 200 gemeinhin als »Wahhabiten« bezeichneten Kämpfern nach Inguschetien ein und attackierte das Innenministerium sowie das Gebäude des russischen Inlandsgeheimdienstes FSB in der Hauptstadt Nazran. Nach wenigen Stunden geriet das Innenministerium unter die Kontrolle der Kämpfer, das Gebäude wurde in Brand gesetzt. Ähnliche Szenen spielten sich gleichzeitig an weiteren Orten ab.
Das Vorgehen der Kämpfer entsprach einem offenbar sorgfältig ausgearbeiteten Plan. Zielgerichtet wurden leitende Personen im inguschetischen Sicherheitsapparat liquidiert, allerdings fielen den folgenden Schießereien auch unbeteiligte Zivilisten zum Opfer. Unter den Toten befinden sich neben dem inguschetischen Innenminister Abukar Kostojew etliche Angehörige von Spezialeinheiten. Am frühen Morgen stellten die Bojewiki die Kämpfe ein und entkamen ungehindert.
In den ersten Reaktionen auf diese zuvor für unmöglich gehaltene Aktion machte der Kreml die üblichen Verdächtigen verantwortlich. Die tschetschenischen Banditen seien an einer Destabilisierung der Situation im Nordkaukasus interessiert. Der designierte Nachfolger und Hauptanwärter auf das tschetschenische Präsidentenamt bei den Ende August anstehenden Wahlen und derzeitige Innenminister Alu Alchanow bezichtigte Schamil Bassajew.
Andere beschuldigen den Separatistenführer Aslan Maschadow, den Überfall angeordnet zu haben. Er hatte Mitte Juni eine »Änderung der Taktik« und »große Angriffe« angekündigt, doch sein Sonderbevollmächtigter Achmed Zakajew bestreitet jede Beteiligung; das Kommando habe ein Inguschete mit Kampferfahrung in Tschetschenien geleitet. Augenzeugen berichteten, dass der Großteil der Bojewiki aus Inguscheten bestand, sich unter ihnen aber auch Tschetschenen, Tscherkessen und arabisch sprechende Söldner befunden hätten.
Tatsächlich würde jeder Erklärungsansatz zu kurz greifen, der einzig und allein das Schalten und Walten der tschetschenischen Separatisten verantwortlich macht. Bereits früher kam es zu Überfällen tschetschenischer Einheiten auf Inguschetien, zudem existieren enge Verbindungen zwischen den tschetschenischen und einer wachsenden Anzahl inguschetischer Jihadisten. Auch das östlich von Tschetschenien gelegene Dagestan wurde im Sommer 1999 zur Zielscheibe, doch das politische Kalkül, mit dem Angriff eine Radikalisierung der dortigen Bevölkerung auszulösen, ging damals nicht auf, nicht zuletzt weil die russische Armee mit äußerster Härte reagierte. Das ungehinderte Eindringen nach Inguschetien und der ebenso mühelose Rückzug sind jedoch ohne Rückhalt in der Republik selbst nur schwer vorstellbar.
In den vergangenen Jahren kam es in Inguschetien im Unterschied zu den umliegenden Republiken zu einem bescheidenen Wirtschaftsaufschwung. Inguschetiens ehemaliger Präsident Rusland Auschew hat den hunderttausenden Flüchtlingen aus Tschetschenien einen legalen Aufenthalt ermöglicht, was zunächst zwar Schwierigkeiten verursachte, sich aber auf lange Sicht bezahlt machte. Denn die Flüchtlinge brachten ihre Ersparnisse mit, internationale Hilfsorganisationen siedelten sich an, das Landesbudget wurde beträchtlich erhöht, und der Warenverkehr stieg spürbar an.
Präsident Zjazikow, der wie Wladimir Putin aus dem KGB stammt, steht zudem für das Moskauer Modell der »Machtvertikalen«. Um die Kontrolle über die Republik zu erlangen, sollen die traditionellen Clans zugunsten einer Hierarchie von Angehörigen des Sicherheitsapparats entmachtet werden. Vor allem der Inlandsgeheimdienst soll sowohl die finanziellen Ressourcen kontrollieren als auch den Kampf gegen Korruption und religiösen Fundamentalismus führen.
Dieser Ansatz ignoriert die Tatsache, dass Inguschetien, ebenso wie Tschetschenien, nie eine Hochburg des militanten Islamismus war, der mittlerweile die Ideologie eines nicht unerheblichen Teil der Bojewiki ist. Der Wahhabismus à la Bassajew stößt bei den Clanführern auf vehemente Ablehnung, denn er ist eine reale Bedrohung ihrer gesellschaftlichen Macht.
Zjazikows Neuerungen jedoch brachte ihr Koordinatensystem komplett durcheinander, denn nun geht die größere Gefahr für die Clans von den inguschetischen Sicherheitsbehörden aus. Und damit wird ein Szenario wie in der Nachbarrepublik enorm begünstigt. Treffend versah die Novaja Gazeta nunmehr einen Kommentar mit dem Titel: »Der Friedensprozess verlagert sich von Tschetschenien nach Inguschetien.«
In der Logik der Behörden ist es nur konsequent, angesichts der eigenen offensichtlichen Unfähigkeit dort nach den Verantwortlichen für den bewaffneten Angriff zu suchen, wo der Zugriff am einfachsten scheint. Einige der bislang festgenommenen Verdächtigen sollen sich in Inguschetien als Flüchtlinge getarnt haben.
Bereits am Nachmittag des 23. Juni blockierten Angehörige der russischen Armee und der inguschetischen Miliz das Flüchtlingslager Altijewo in Inguschetien. Dort leben etwa 1 200 aus Tschetschenien geflüchtete Menschen, allerdings nur noch 300 von ihnen legal. Alle BewohnerInnen einschließlich Frauen und Kindern wurden Kontrollen unterzogen, begleitet von Schlägen und Demütigungen, zudem sollten sie Absichtserklärungen über die baldige Rückkehr nach Tschetschenien unterzeichnen. Etliche Personen wurden festgenommen, die meisten später jedoch wieder freigelassen. Ähnliches spielte sich an anderen Orten ab.
Nachdem die Strom- und Gasversorgung von Altijewo abgestellt worden war, wandte sich der Kommandant des Flüchtlingslagers hilfesuchend an den Stellvertreter der inguschetischen Migrationsbehörde und erhielt folgende Antwort: »Ich bin leider nicht in der Lage, Ihnen zu helfen. Wenn Ihnen gedroht wird und Sie eine Frist von zwei Tagen bekommen, dann fahren Sie weg, verlassen Sie das Lager. Ich habe selbst vor ihnen Angst, sie gehen mir auch an den Kragen.« Sie – das sind die, die offiziell mit der Wahrung von Sicherheit und Ordnung beauftragt sind.
Ute Weinmann
Jungle World