Die russische Regierung hat neue Gesetze beschlossen, durch die mehrere Millionen Menschen soziale Vergünstigungen verlieren.
Die weltweite neoliberale Umgestaltung der Arbeitswelt mit ihren Angriffen auf soziale Rechte kennt keine Sommerpause. Die Urlaubssaison hatte schon begonnen, da mussten sich die Abgeordneten der Duma Anfang August in Moskau einfinden, um in Windeseile ein Gesetz zu verabschieden, das in der jüngsten russischen Geschichte seinesgleichen sucht.
Bereits seit geraumer Zeit planen die Präsidialadministration, die Regierung und deren Hauspartei Jedinaja Rossija (Einiges Russland) eine Reihe von Reformen. Veränderungen gibt es bei den Arbeitsrechten ebenso wie in den Bereichen Bildung, Ökologie und Gesundheit. Nicht zuletzt wurden die umfangreichen Vergünstigungsleistungen für zahlreiche Bevölkerungsgruppen »reformiert«.
Kernpunkt des neuen Gesetzes ist die Übergabe von sozialen Verpflichtungen vom föderalen Zentralstaat an die Regionen und Kommunen. Zudem sollen Kriegsteilnehmer, Menschen mit Behinderungen und die zahlreichen Katastrophenhelfer nach dem Atomunglück in Tschernobyl 1986 auf Vergünstigungen u.a. im Personenverkehr und im Gesundheitswesen verzichten und stattdessen mit Barzahlungen zwischen 20 und 100 Euro entschädigt werden, was den Verlust an nicht materiellen Subsidien jedoch keinesfalls aufwiegt.
So genannte Arbeitsveteranen, Kriegsteilnehmer, die lediglich in der Etappe eingesetzt waren, und »Repressierte«, Opfer der stalinistischen Unterdrückung, mussten bislang für Wohnbetriebskosten lediglich 50 Prozent Eigenanteil tragen. Nun sollen sie leer ausgehen. Davon allein sind etwa 40 Millionen Menschen betroffen. Das Kindergeld fällt weg, ebenso die kostenlosen Schulspeisungen. Die Lohnzuzahlungen sollen bei einem Einsatz im hohen Norden und in ländlichen Gebieten abgeschafft werden, was jedoch nicht für Mitarbeiter der föderalen Dienste wie Staatsanwälte oder Richter gilt.
Zwar will die Regierung zusätzliche Haushaltsmittel in Höhe von 170 Milliarden Rubel bereitstellen, was etwas weniger als fünf Milliarden Euro entspricht; doch allein die Tatsache, dass von den 89 Verwaltungseinheiten der Föderation 71 auf Subventionen aus Moskau angewiesen sind, führt vor Augen, dass sich das Projekt in erster Linie gegen soziale Mindeststandards richtet. Die Kommunen sind nicht in der Lage, den an sie gestellten Anforderungen auch nur im Ansatz nachzukommen.
Zudem soll erreicht werden, dass sich die Unzufriedenheit in der Bevölkerung nicht gegen den Kreml, sondern gegen die Regierungen der Regionen richtet. Die Verwaltung der Armut ist vom kommenden Jahr an in erster Linie eine Aufgabe der Gouverneure. Der Kreml schafft sich somit zusätzliche Machthebel zur Einflussnahme in den Regionen, denn unter den gegebenen Bedingungen dürfte es den Regionalfürsten deutlich schwerer fallen, auch nur einen Schein von Popularität zu wahren, die ein unabhängiges Agieren vom politischen Zentrum zumindest erleichtert.
Mit den Relikten aus sozialistischen Zeiten müsse Schluss gemacht werden, lautet das Credo aus der Regierungsriege. Doch ein Großteil der nun abgeschafften Vergünstigungen wurde nicht von der KPdSU, sondern von Präsident Boris Jelzin eingeführt. Angesichts der derzeitigen Kräfteverhältnisse in der Duma musste die Regierung um ihre Stimmenmehrheit kaum bangen, doch war in der bislang gewahrten Einheitsfront innerhalb der Jedinaja Rossija erstmals ein deutlicher Riss wahrzunehmen. Innerhalb der Fraktion wäre zwar niemand so weit gegangen, die 600 Seiten umfassende Gesetzessammlung als solche in Frage zu stellen, aber die Zahl der Anmerkungen und Änderungswünsche erreichte die kolossale Höhe von 3 000. Hauptsächlich enthält die Kritik jedoch Forderungen nach Beibehaltung des Sonderstatus bei besonderen Verdiensten für das Vaterland, aber auch nach der Garantie eines staatlich festgelegten Mindestlohnes.
Präsident Wladimir Putin hielt sich von Anfang an bedeckt. Sein Kommentar beschränkte sich auf den lapidaren Satz, es solle niemand an den Reformen »Schaden nehmen«. Auch Ministerpräsident Michail Fradkow schien schnell begriffen zu haben, dass ein vehementes Werben für die neuen Gesetze zu einer dauerhaften Imageschädigung führen könnte, und überließ den aktiven Vermittlungspart Gesundheitsminister Michail Zurabow.
Die Folgen bekam dieser bald zu spüren. Eine Gruppe von 30 Anhängern der Nationalbolschewistischen Partei erstürmte Anfang August die Arbeitsräume von Zurabow. Es gelang den Rechten, sich zu verbarrikadieren und vor dem Eintreffen der Miliz einen nicht unerheblichen Sachschaden anzurichten. Wegen mutwilliger Ausschreitungen und Sachbeschädigungen drohen acht Personen Freiheitsstrafen bis sieben Jahre.
Um eine größere Mobilisierung zu verhindern, wurde in den Medien eine Propagandakampagne gestartet. Der Minister für wirtschaftliche Entwicklung, German Gref, ging sogar zum direkten Angriff über, indem er die Bezieher der derzeitigen sozialen Vergünstigungen mafiöser Praktiken beschuldigte.
Kritische Stimmen gegen das Regierungsvorhaben waren in den staatlichen Medien kaum zu vernehmen, die Berichterstattung dominierten Rentner und Renterinnen, die eindeutig für die Regierungsvariante plädierten, da sie die bisherigen Vergünstigungen in vollem Umfang sowieso nicht nutzen könnten. Dieses Argument ist nicht einfach aus der Luft gegriffen, aber die Zuspitzung der Debatten auf die finanzielle Kompensation als Allheilmittel für die soziale Misere im Land ließ keinen Raum für alternative Ideen.
Trotz eines bis vor kurzem noch undenkbaren Bündnisses aus Vertretern der Gewerkschaften, ökologischen und sozialen Vereinen, Menschenrechtsgruppen, den Tschernobyl-Katastrophenhelfern und Liberalen gelang es nicht, den erforderlichen Druck auf die Regierung auszuüben. An Massenproteste will niemand mehr so recht glauben. Auch die Kommunistische Partei der Russischen Föderation von Gennadi Sjuganow, die in dem Bündnis nicht vertreten ist, aber eigene Kundgebungen veranstaltet, verfügt über keine ausreichende Basis. Ein Großteil der Protestierenden gehört den älteren Generationen an. Jüngere Leute bilden die Ausnahme; sie lassen sich zudem überwiegend dem stalinistischen Spektrum zuordnen oder sind von abstrakter Sowjetnostalgie geleitet. Dafür praktizieren sie medienwirksamere Aktionsmethoden oder gehen gar zu Hungerstreiks über, wie beispielsweise die Linke Jugendfront, ein Zusammenschluss diverser Überbleibsel der Komsomol und der stalinistischen Avantgarde der roten Jugend.
Ute Weinmann