Erst nach zwei Tagen räumte die russische Regierung ein, dass Terrorakte den Absturz zweier Flugzeuge verursacht haben. Denn die Anschläge widerlegen die Behauptung, die Lage in Tschetschenien nähere sich der Normalität.
Zwei Tage lang wurde die russische Bevölkerung in der Illusion bestärkt, technische Probleme könnten zu dem Absturz von zwei Passagierflugzeugen mit insgesamt 90 Insassen am Dienstag der vergangenen Woche geführt haben. Der russischen Regierung kam ein so spektakulärer Terroranschlag kurz vor den Präsidentschaftswahlen in Tschetschenien ungelegen. Doch die Version, der Absturz zweier auf dem gleichen Flughafen gestarteter Flugzeuge im Abstand von nur wenigen Minuten sei ein unglücklicher Zufall, ließ sich nicht halten.
Am Freitag gab der Geheimdienst FSB bekannt: »Während der Untersuchung der Überreste des Tu-154-Flugzeugs wurden Spuren von Sprengstoff gefunden.« Auch die Trümmer der zweiten Maschine wiesen Sprengstoffspuren auf. Dabei handelt es sich um Hexogen, das auch 1999 bei der Sprengung von Wohnhäusern in Moskau und im Süden Russlands eingesetzt wurde.
Am Tag der Abstürze explodierte ein Sprengsatz an einer Bushaltestelle im Süden Moskaus, offenbar um die Reaktion des Sicherheitsapparates zu prüfen. Erst danach gab es grünes Licht für die folgende Aktion. Dieses Szenario mit einem vorhergehenden Testlauf wurde bereits im Jahre 2002 vor der Erstürmung des Musicaltheaters (Jungle World, 45/02) erfolgreich erprobt.
In beiden Flugzeugen soll sich jeweils eine Tschetschenin unter den Passagieren befunden haben. Die beiden Frauen gelten nun als Hauptverdächtige, es gibt jedoch auch ein Bekennerschreiben der Islambouli-Brigaden, das angibt, an Bord beider Flugzeuge hätten sich jeweils fünf Attentäter befunden. Khaled Islambouli führte das Kommando, das 1981 den ägyptischen Präsidenten Anwar al-Sadat tötete. Die nach ihm benannten Brigaden haben sich seit Mitte der neunziger Jahre zu mehreren Anschlägen in Pakistan bekannt. Die Gruppe erklärt, der Doppelanschlag solle »unseren muslimischen Brüdern helfen, die in Tschetschenien und anderen muslimischen Ländern unter dem russischen Atheimus leiden«.
Es ist möglich, dass die dem al-Qaida-Netzwerk zugerechnete Brigade ihre Hände im Spiel hatte. Die Version, dass eine Gruppe aus dem Umfeld des »globalen Jihad« die Flugzeuge gesprengt hat, würde in erster Linie den Teilen des russischen Sicherheitsapparates nutzen, die mit der »antiterroristischen Operation« – der offizielle Jargon vermeidet das Wort »Krieg« – in Tschetschenien beauftragt und damit sichtlich überfordert sind.
Auch der Kreml könnte außenpolitisch davon profitieren und den Krieg in Tschetschenien als Teil der internationalen Terrorismusbekämpfung darstellen. Doch innerhalb Russlands hat die Frage, ob tschetschenische oder internationale Jihadisten die Täter waren, nur geringe Bedeutung. Nur noch unter Aufbietung aller zur Verfügung stehenden medialen und administrativen Ressourcen gelingt die Suggerierung von Normalität und erfolgreicher Konfliktbewältigung in Tschetschenien.
Die Wahlen am Sonntag sollten in ruhiger Atmosphäre stattfinden, doch es war separatistischen Einheiten gelungen, mehrmals in die tschetschenische Hauptstadt Grosny vorzudringen. Bei den Gefechten starben mehrere Dutzend Kämpfer und Angehörige des tschetschenischen Sicherheitsapparates, aber auch zahlreiche Zivilisten. Weitaus spektakulärer waren jedoch die Anschläge auf die beiden Flugzeuge.
»Es scheint, als ob die Behörden vor den tschetschenischen Präsidentschaftswahlen die offensichtlichen Tatsachen einfach nicht zugeben wollen«, kommentierte die Zeitung Kommersant die Informationspolitik nach den Anschlägen, die dem typischen Handlungsschema des russischen Machtapparates entspricht: Anfangs wird das Problem geleugnet. Wenn das nicht mehr möglich ist, wird ein Teil des Problems eingestanden, und man bemüht sich, Lösungen für diesen Teil des Problems zu finden. Dessen Ursachen werden jedoch weiter ignoriert.
So wird gegenwärtig die Diskussion in der Öffentlichkeit einzig und allein auf Fragen der Flugsicherheit reduziert. Es hat sich herausgestellt, dass der erst vor wenigen Jahren ausgebaute Moskauer Flughafen Domodedowo über völlig unzureichende Mittel verfügt, Passagiere und Gepäckstücke auf gefährliche Gegenstände zu untersuchen.
Damit stellt Domodedowo keine Ausnahme dar. Ab sofort übernimmt nun das russische Innenministerium die Kontrollhoheit und suggeriert damit, allein der Zentralstaat sei in der Lage, die Sicherheit der Passagiere zu gewährleisten. Der Sprecher des russischen Inlandsgeheimdienstes FSB, Sergej Ignatschenko, hat nun herausgefunden, dass das israelische Sicherheitssystem an Flughäfen am effektivsten funktioniere, es soll jetzt auch in Russland Anwendung finden. Das dürfte potenzielle Terroristen jedoch nicht daran hindern, sich andere Ziele zu suchen.
Denn es ist offensichtlich, dass Putins Politik nicht zu einer Stabilisierung und Normalisierung der Lage in Tschetschenien geführt hat. Immer wieder kommt es zu Terrorakten in Tschetschenien und Russland. Die nötigen menschlichen Ressourcen für weitere Anschläge, selbst wenn diese unweigerlich den eigenen Tod zur Folge haben, werden sich finden lassen, ob sich die Attentäter nun »freiwillig« oder unter Zwang zur Verfügung stellen. Schärfere Kontrollen können einzelne Anschläge verhindern, ändern aber nichts an der grundlegenden Situation.
Die russische Regierung hat zu dieser Eskalation beigetragen. Als es noch möglich gewesen wäre, Verhandlungen mit dem vor Beginn des zweiten Krieges gewählten Präsidenten Aslan Maschadow zu führen, lehnte der Kreml ab. Maschadow hat inzwischen längst sowohl in der tschetschenischen Bevölkerung als auch bei einem Großteil der kämpfenden Einheiten an Autorität eingebüßt. Islamistische Warlords haben die Führung der separatistischen Bewegung übernommen.
Um den Krieg zu »tschetschenisieren«, übergab die russische Regierung Achmad Kadyrow, dem ehemaligen Großmufti von Tschetschenien, im vergangenen Jahr nach manipulierten Wahlen den Posten des Präsidenten. Kadyrows Clan regierte mit Härte, nicht zuletzt mit der Unterstützung der mordenden Sondereinheiten von Ramzan Kadyrow, der zunächst als neuer Präsident gehandelt wurde, nachdem sein Vater am 9. Mai bei einem Anschlag getötet worden war.
Doch fand sich nach kurzer Suche ein besserer Kandidat für diesen Posten: der tschetschenische Innenminister Alu Alchanow. Der gesamte mediale Propagandaapparat war auf Alchanows Sieg programmiert. Im Unterschied zu den vorhergehenden Wahlen schied keiner der restlichen sechs Kandidaten vorzeitig aus. Doch ihnen blieb nur die Rolle von kaum sichtbaren Statisten.
Ute Weinmann