Nach der Geiselnahme in Nordossetien ruft Präsident Putin zur Mobilisierung der Nation auf. Die Hintergründe des Sturms auf die Schule will der Kreml geheim halten.
Von einer »schrecklichen Tragödie« sprach Präsident Wladimir Putin in seiner Rede nach dem Ende der Geiselnahme in Beslan, von der Notwendigkeit, »das Bewusstsein der Nation zu mobilisieren«, und er räumte sogar ein, dass »solche Kriege nicht schnell enden«. Mit keinem Wort aber ging Putin auf die Umstände der Erstürmung der Schule im nordossetischen Beslan ein.
Was sich während der mehrere Stunden andauernden Schießereien am Freitag der vergangenen Woche tatsächlich abgespielt hat, werden wir wohl nie erfahren. Der Kreml und die zuständigen Einsatzstäbe handeln in bester Geheimdienstmanier und die russischen Medien, allen voran die großen Fernsehsender, agieren als ausführende Organe, die jede noch so offensichtliche Lüge präsentieren. Es gibt keinerlei Anzeichen dafür, dass eine unabhängige Untersuchung geplant ist oder zugelassen wird.
Der russische Generalstaatsanwalt Sergej Fridinskij bezifferte die Todesopfer am vergangenen Samstag auf 322, darunter 155 Kinder. Doch aus den Trümmern in der Schule werden weiterhin Leichen geborgen. Dennoch wird die Aktion als Erfolg gewertet. Zwei Tage lang ertönte immer wieder die Versicherung, eine Erstürmung des Gebäudes sei nicht vorgesehen, schließlich stehe an erster Stelle die Rettung von Menschenleben. Hinterher hieß es, sie sei unvermeidlich gewesen und spontan vonstatten gegangen. Standhaft wurde behauptet, in Geiselhaft befänden sich 354 Menschen, obwohl die Schulklassen allein über 800 Schüler zählten, Lehrende und am ersten Schultag anwesende Gäste nicht mit eingerechnet.
Noch am ersten Tag ließen die Terroristen durch eine schriftliche Nachricht verlautbaren, sie forderten den Abzug der russischen Truppen aus Tschetschenien und Verhandlungen mit dem Präsidenten der Nachbarrepublik Inguschetien, Murat Zjazikow. Später fiel diese Meldung der Zensur zum Opfer. Die Haltung des Kreml sah keinerlei Verhandlungen vor und der FSB-Mann Zjazikow erschien nicht. Dafür gelang es dessen Amtsvorgänger Ruslan Auschew, der seinerzeit durch Eigeninitiative hunderttausenden von tschetschenischen Flüchtlingen einen legalen Aufenthalt in Inguschetien ermöglichte und deshalb in Moskau in Ungnade fiel, in Verhandlungen die Freilassung von 26 Geiseln zu erreichen.
Es existieren widersprüchliche Angaben zu den Explosionen, die dem Angriff der Sondereinsatzgruppe Alfa vorausgegangen sein sollen. Fraglich ist, wodurch die Explosionen ausgelöst wurden und ob sie ursächlich für den chaotischen, unkoordinierten Einsatz der Sicherheitskräfte waren. Zudem bleibt unklar, warum die uniformierten Einheiten die Aktivitäten bewaffneter Zivilisten duldeten, die sich am Sturm auf die Schule beteiligten, aber bereits zuvor geschossen hatten. Beslan befindet sich im Kaukasus, und dort ist es nicht unüblich, dass der männliche Teil der Bevölkerung über eine Waffe verfügt. Die Duldung der »Vigilanten« könnte Teil eines Kalküls gewesen sein, das auf eine schnelle Beendigung des Dramas um jeden Preis abzielte, dies aber als unvermeidliche Entwicklung darstellen will.
Die Wahl der Terroristen scheint nicht zufällig auf Beslan gefallen zu sein. In Moskau geraten Anschläge meist schnell in Vergessenheit. Im Nordkaukasus aber, wo die Blutrache noch praktiziert wird, könnte dieser Konflikt zu einem Krieg zwischen orthodoxen, eher an Moskau orientierten Osseten und muslimischen Inguschen eskalieren. Auf den Straßen von Beslan wurde bereits gefordert, die Namen aller beteiligten Terroristen zu veröffentlichen. Mit dem blutigen Angriff auf die Hauptstadt Nazran am 22. Juni (Jungle World 28/04) ist Inguschetien bereits Teil der Kampfzone im Nordkaukasus geworden; dabei wurde die Existenz inguschetischer Jihadisten offensichtlich.
Die Geiselnahme von hunderten Kindern stellt eine neue, bislang unbekannte Qualität des Terrors dar. Die Verantwortung dafür tragen der Warlord Schamil Bassajew und seine Todesbrigade Rijadus Salichin. Als Führer des Kommandos gilt Doku Umarow, der mit seinen 40 Jahren bereits eine lange Karriere als islamistischer Kämpfer hinter sich hat. Daneben sollen Magomed Jewlojew, Wladimir Hodow, der unter dem Pseudonym Fantomas bekannte Leibwächter von Bassajew, und mehrere Frauen an der Aktion beteiligt gewesen sein. Zehn arabische Söldner sollen sich unter den Terroristen befunden haben, Augenzeugen berichteten jedoch, keiner der Geiselnehmer habe Arabisch gesprochen. Selbst über die Anzahl der Terroristen herrscht Unklarheit. Anfangs wurde gemeldet, drei seien lebendig gefasst worden. Später wurde angegeben, alle Terroristen seien tot. Am Sonntag wurde Nur-Paschi Kulajew aus der Leibgarde Bassajews als Beteiligter an der Attacke im russischen TV präsentiert.
Über mögliche Motive und politische Zusammenhänge schweigt die Regierung. Allein die Erwähnung von Bassajew muss jedoch Misstrauen hervorrufen. Der islamistische Warlord war Anfang der neunziger Jahre in Abchasien für den russischen Militärgeheimdienst tätig. Dass er in den vergangenen zehn Jahren immer wieder aus den aussichtslosesten Situationen entkam, nährte den Verdacht, dass er weiterhin vom russischen Geheimdienst begünstigt wird. »Es wäre nicht das erste Mal, dass ein Land eine separatistische Bewegung zu besiegen versucht, indem sie einen radikaleren terroristischen Flügel unterstützt«, kommentierte Masha Gessen von der russischen Wochenzeitung Bolshoi Gorod.
Damit so wenig Informationen wie möglich über die tatsächlichen Ereignisse an die Öffentlichkeit gelangen, greift der Kreml zu den plumpesten Mitteln. Behandelnden Ärzten in den Krankenhäusern, in denen sich ehemalige Geiseln aufhalten, wurden die Mobiltelefone abgenommen. Kritische Journalisten wurden an der Ausübung ihrer Arbeit gehindert. Andrej Babitski von Radio Liberty wurde am Flughafen in Moskau festgenommen und für fünf Tage in Haft gesetzt unter dem Vorwand, er hätte gegen die öffentliche Ordnung verstoßen, und Mitarbeiter des georgischen Fernsehsenders Rustavi-2 wurden daran gehindert, mit befreiten Geiseln ein Interview zu führen.
Präsident Wladimir Putin will den Terror vor allem mit neuen Maßnahmen der Sicherheitskräfte bekämpfen, »selbstverständlich in Übereinstimung mit der Verfassung«. Der Chefkommentator des staatlichen Fernsehkanals ORT, Michail Leontjew, sprach deutlichere Worte. Banditen besäßen keine Nationalität, selbst Bassajew und der Separatistenführer Aslan Maschadow seien Marionetten, Russland müsse als Hauptopfer des internationalen Terrorismus betrachtet werden.
Noch vor wenigen Jahren wies die erste offizielle Version nach jedem Anschlag auf die »tschetschenische Spur«. Im Zuge der angeblichen »Normalisierung der Verhältnisse« in Tschetschenien wird in der Propaganda nunmehr auf ausländische Terroristen verwiesen. Die neue Doktrin geht von einem Terrorismus aus, der Russland vernichten will und gegen den alle Mittel gerechtfertigt erscheinen. Nach diesem Paradigmenwechsel gibt es aus der Sicht der russischen Regierung keinen Kampf mehr gegen Separatisten, die politischen Ziele verfolgen und mit denen man verhandeln könnte.
Ute Weinmann