Der russische Präsident nutzt die Geiselnahme von Beslan zu einer autoritären Neuordnung des Landes.
Der Kreml und die russischen Sicherheitskräfte haben ihn von Anfang an für die Geiselnahme in Beslan verantwortlich gemacht. Am vergangenen Wochenende veröffentlichte eine tschetschenische Internetseite eine Erklärung, in der sich der Terrorist Schamil Bassajew zur Geiselnahme sowie zu den Anschlägen auf zwei russische Flugzeuge und zum Bombenanschlag vor einer Mokauer Metrostation bekannte. Die Authentizität dieser Erklärung ist noch unklar, fest aber steht, dass die jüngsten Anschläge, bei denen innerhalb von zwei Wochen mehr als 430 Menschen ums Leben kamen, eine Reaktion erfordern.
Wer sich jedoch erhofft hatte, dass wenigstens die Verantwortlichen für das fatale Scheitern der Sicherheitskräfte bei der Geiselbefreiung in Beslan ihre Posten räumen müssten, hatte sich geirrt. Die geplanten Maßnahmen für eine effektive Terrorbekämpfung reichen über die Entlassung von bekannten und weniger bekannten Apparatschiks weit hinaus. In seiner in voller Länge in den Abendnachrichten ausgestrahlten Ansprache vom 13. September verkündete Putin, dass »die Einheit des Landes die Hauptvoraussetzung für den Sieg über den Terrorismus« sei. Diese sei nur mit einer stringent organisierten »Vertikalen der Macht« und einer »Diktatur des Gesetzes« zu haben.
Deshalb sollen die Präsidenten und Gouverneure der Teilrepubliken und Verwaltungsgebiete nicht länger, wie bislang in der gesamten Russischen Föderation außer in Dagestan, direkt gewählt, sondern vom Präsidenten ernannt werden. Wie bei der Wahl des Premierministers, wo die Duma nur das Recht hat, einen Vorschlag des Präsidenten zu bestätigen oder abzulehnen, sollen auch die regionalen Parlamente über einen Vorschlag aus dem Kreml entscheiden können. Bei den Wahlen zur Duma soll es nur noch Parteilisten geben und keine Direktmandate mehr, die bislang rund die Hälfte der 450 Sitze ausmachen.
Mit einer Bekämpfung des Terrorismus hat diese Initiative wenig zu tun. Es bot sich lediglich die Gelegenheit, ein wohl seit längerer Zeit geplantes Projekt anzugehen. Letztlich fällt der Unterschied für den Großteil der Bevölkerung gering aus. Ob in Petersburg, Tschetschenien oder Inguschetien – überall setzten sich bei den mal mehr, mal weniger manipulierten Wahlen die Kandidatinnen bzw. die Kandidaten aus Moskau durch. Dass im Archangelsker Gebiet und im fernen Altai seinerzeit die Gegenkandidaten gewinnen konnten, ist eher als Missgeschick der Strategen aus der Präsidialadministration zu werten. Denn teilweise, wie etwa in Wladiwostok, gehen die staatlichen Eingriffe so weit, dass auch die Ausschaltung unterwünschter Kandidaten mittels physischer Gewalt nicht ausgeschlossen ist.
Beifall findet Putins Projekt nicht nur im Machtzentrum. Auch zahlreiche amtierende Provinzfürsten stimmen Putins »radikaler Umstrukturierung« der Institutionen zu, offensichtlich in der Erwartung, dass sich die Treue zum Präsidenten in Zukunft auszahlen werde. Dabei gibt es keine Garantie dafür, dass Putin bei Bedarf das örtliche Personal nicht einfach auswechselt.
Der tatarische Präsident Mintimer Schajmijew begründet seine Unterstützung damit, dass immer wieder Leute gewählt würden, die nicht unbedingt in der Lage seien zu regieren. Der Moskauer Bürgermeister Jurij Luschkow pflichtet dem bei, schließlich benötige man an leitender Stelle fähige Haushaltsexperten und keine Politiker. Sowohl Schajmijew als auch Luschkow können nach geltendem Recht bei den nächsten Wahlen nicht mehr antreten. Doch ändert sich das Gesetz, dürften sie mit Unterstützung aus dem Kreml ihre Amtszeit verlängern.
Für die Gouverneure ergeben sich weitere Vorteile. In Zeiten, da sich die soziale Situation des unteren Drittels der Gesellschaft weiter zu verschlechtern droht und die Verteilung spärlicher staatlicher Mittel im Rahmen der Sozialreform im kommenden Jahr vom Zentrum auf die Regionen übertragen wird (Jungle World, 35/04), liegt es nahe, die Verantwortung für die Misere wieder nach Moskau zu übertragen.
Für den Augenblick mag der Plan einer Festigung politischer Machtstrukturen um den russischen Präsidenten und seine Petersburger Vertrauten aufgehen. Vielen schien die außenpolitische Annäherung Russlands an den Westen Garant für demokratische Elemente in dessen Herrschaftssystem zu sein. Doch wenngleich Russland nach vollwertiger Anerkennung durch die USA und die EU und nach gleichberechtigter Teilnahme an der internationalen Politik strebt, orientieren sich die politische Elite und die Bevölkerung immer weniger an viel beschworenen westlichen Werten. Und für die Befriedigung von Konsumwünschen braucht es bekanntermaßen weder Wahlen noch sonstiges Gerede über Grundrechte und Demokratie.
Kritik an Putins Plänen ist nicht nur aus liberalen Kreisen, sondern ebenfalls aus dem Mund nationalpatriotischer und kremlnaher Personen zu vernehmen. Der Politologe Stanislaw Belkowskij ließ verlautbaren, dass man es mit »dem größten Fehler Putins während seiner gesamten Amtszeit« zu tun habe, der sich mit der Verantwortung für die Regionen übernehmen könnte. Und der ehemalige Präsident Boris Jelzin warnte am Wochenende seinen Zögling und Nachfolger davor, das Geiseldrama von Beslan als Vorwand zu nutzen, um Rechte und Freiheiten der Bürger weiter einzuschränken. »Wir sollten es nicht zulassen, vom Buchstaben und Geist der 1993 angenommenen Verfassung abzurücken«, sagte Jelzin der Wochenzeitung Moskowskije Nowosti. Teile der kommunistischen Linken frohlocken bereits, weil sie sich mehr Chancen für eine klare Trennung zwischen politischer Elite und Opposition ausrechnen, da es nun keine Möglichkeit mehr gebe, sich durch Wahlen in den Machtapparat integrieren zu lassen.
Seit der Tragödie in Beslan wird in Regierungskreisen und in den von Staats wegen anerkannten Konfessionen – neben dem christlich-orthodoxen und muslimischen Glauben gehören dazu der jüdische und der buddhistische – beschworen, Russland drohe der Zerfall. Doch die reale Entwicklung in den vergangenen Jahren straft dies Lügen. Die halbautonome überwiegend muslimische Republik Tatarstan pflegt außerordentlich warmherzige Beziehungen zum russischen Machtzentrum. Im fernen Osten gibt es längst keine sichtbaren Tendenzen mehr für eine mögliche Abspaltung, und noch dazu streben derzeit weder Inguschetien, noch Dagestan nach der Loslösung von Russland. Allein Tschetschenien bildet hier die Ausnahme. Aber auch der von Moskau nach bewährtem Muster eingesetzte und durch eine Wahlfarce legitimierte Statthalter Alu Alchanow dürfte daran nur wenig ändern.
Ute Weinmann