Der tschetschenische Widerstand hat sich differenziert und radikalisiert. Verlässliche Informationen aber sind kaum zu bekommen.
Die russische Führung ist sicher: Die Verantwortung für die jüngste Serie von Terroranschlägen, darunter die Geiselnahme in Beslan, bei denen insgesamt über 430 Menschen starben, tragen Russlands bekanntester Warlord, Schamil Bassajew, sowie der 1997 zum Präsidenten der Republik Tschetschenien gewählte Aslan Maschadow. Während der Letztgenannte diesen Verdacht empört zurückweist, bekannte sich Bassajew in einer ausführlichen, im Internet veröffentlichten Stellungnahme zu den Aktionen. Keine andere Gruppierung habe damit zu tun, heißt es darin. Zudem machte Bassajew Angaben zu den Kosten der Terroraktionen, die sich auf etwa 20 000 Dollar belaufen haben sollen. Die Technik stamme weitgehend aus Beutezügen, mangels größerer finanzieller Mittel sei die Wahl auf das nahe der inguschetisch-ossetischen Grenze gelegene Beslan gefallen. Aus dem Ausland hätten die Separatisten in diesem Jahr nur etwa 16 000 Dollar erhalten.
Doch zuverlässige und überprüfbare Angaben gibt es nicht, ebenso wenig wie über die von staatlichen Stellen behauptete Beteiligung arabischer Jihadisten an der Geiselnahme. Klar ist bislang lediglich der Weg, auf dem die Terroristen an ihren Zielort gelangten: ein Feldweg, der üblicherweise zum illegalen Transport von Erdöl aus Tschetschenien nach Nordossetien benutzt wird.
An diesem Geschäft verdienen Angehörige der russischen Streitkräfte und Sondereinheiten kräftig mit. Das gilt nicht nur für Ölgeschäfte, sondern ebenso für Plünderungen von Zivilgut, Schmiergelder an Straßenposten und Waffenverkäufe aus russischen Beständen. Man kennt sich, spricht die gleiche Sprache, und je nach Tageszeit wird mit oder ohne Waffen kommuniziert.
Bassajew und Maschadow blicken auf eine gemeinsame Vergangenheit zurück, die jedoch immer wieder durch Zwistigkeiten getrübt wurde. Der ehemalige Sowjetgeneral Maschadow gilt als kühler Stratege, Bassajew hingegen als kompromissloser Ideologe und Verfechter einer Föderation kaukasisch-muslimischer Staaten. Nachdenklich stimmt, dass es nach Angaben ehemaliger hoher russischer Militärs wie des ehemaligen Oberkommandierenden der Streitkräfte, Anatolij Kulikow, während des ersten Tschetschenien-Krieges keinen Befehl des Kremls gab, Bassajew festzunehmen. Jetzt ist auf beide ein Kopfgeld von 8,5 Millionen Dollar ausgesetzt.
Zu Beginn der vergangenen Woche haben die russischen Truppen eine Offensive gestartet, in deren Verlauf es zu heftigen Kämpfen kam, die nicht nur unter den Separatisten, darunter auch Anhänger Maschadows, sondern auch unter Zivilisten Opfer gefordert haben sollen. Doch bei dem vermeintlich gemeinsamen Kampf der beiden Staatsfeinde dürfte es sich eher um ein Konstrukt als um eine Tatsache handeln. Die jüngste Ankündigung Maschadows, Bassajew wegen der Geiselnahme in Beslan nach Kriegsende vor Gericht stellen zu wollen, dürfte den endgültigen Bruch der Zusammenarbeit nach sich ziehen. Erste Racheakte in dem Geburtsort Maschadows, Alleroi, haben in der Nacht zum Samstag bereits stattgefunden.
Aber auch hier stellt sich das Problem, welche Information als authentisch und zutreffend gelten darf. Während im Verlauf des ersten Krieges Menschenrechtsaktivisten und Journalisten sich fast regelmäßig mit ranghohen Separatistenführern trafen und so eine wenngleich eingeschränkte Möglichkeit bestand, die russische Informationspolitik zu überprüfen, ist dies heute praktisch unmöglich. Die Kämpfer operieren aus dem Untergrund und verbreiten Kommuniqués per Internet. Dabei beherrscht Bassajew den virtuellen Raum glänzend, während andere Gruppen keinen Wert auf Werbestrategien legen und somit in der öffentlichen Wahrnehmung kaum präsent sind. So entsteht der Eindruck eines mehr oder weniger einheitlich organisierten Widerstands.
Doch tatsächlich haben sich die tschetschenischen Separatisten längst differenziert, was nicht zuletzt auf einen Zerfall traditioneller sozialer Strukturen in Tschetschenien zurückzuführen sein dürfte. Tschetschenien unterscheidet sich deutlich von den anderen Kaukasusrepubliken. Im Unterschied etwa zum benachbarten Dagestan mit seiner vergleichsweise städtisch und muslimisch geprägten Kultur wurde die angrenzende und zuvor heidnisch geprägte Bergrepublik viel später, nämlich etwa gleichzeitig mit der Einverleibung in das russische Zarenreich islamisiert. Beides galt als fremd, mit den russischen Nachbarn hatte man sich jedoch irgendwann arrangiert. Die hohe Arbeitslosigkeit in Tschetschenien führte zu Sowjetzeiten dazu, dass sich etwa die Hälfte der Bevölkerung dazu gezwungen sah, in anderen Regionen Arbeit anzunehmen. Nach dem Ende des staatlich sanktionierten Atheismus hat sich eine heidnisch-muslimischer Glaubensmischung etabliert.
Seit der zweiten Hälfte der neunziger Jahre gewannen wahhabitisch-islamistische Tendenzen vor allem in der Nachbarrepublik Dagestan an Einfluss. In weiten Teilen Tschetscheniens gilt der Wahhabismus, an den sich die Ideologie der radikalen Kämpferfraktion um Bassajew anlehnt, als Schimpfwort. Erfahrene Beobachter berichteten zudem von Spannungen zwischen tschetschenischen Separatisten und den wenigen bekannten Islamisten aus dem arabischen Raum wie dem 2001 umgekommenen Khattab oder dem inzwischen getöteten Arbi Barajew und seinem Sohn Mowsar, der die Geiselnahme in dem Moskauer Musicaltheater vor zwei Jahren anführte.
Im ersten Tschetschenien-Krieg war es kaum denkbar, dass sich innerhalb eines Familienclans verschiedene Fraktionen bildeten. Mittlerweile ist dies ein genereller Ausdruck des gesellschaftlichen Zerfalls. Zudem wurde die jüngere Generation während des Krieges sozialisiert, oder genauer gesagt: entsozialisiert. Präsident Wladimir Putins Kraftausspruch, man müsse die Banditen »im Klo kaltmachen«, war als Kampfansage an die gesamte Bevölkerung gemeint. Die russischen Streitkräfte und Sondereinheiten haben in ihrer Brutalität gegen alle, selbst gegen diejenigen, die anfangs mit der russischen Seite kooperierten, ihren Teil dazu beigetragen, dass gerade die 20jährigen Kämpfer ihre Motivation aus dem Hass auf Russen schlechthin beziehen. Die innere Zerrissenheit der kämpfenden Fraktionen trägt zu einer Eskalation des Konflikts und zu einer Steigerung des Terrors bei. Von Moskaus Unwillen zur Einhaltung von Minimalstandards im Hinblick auf Grundrechte und der Ahndung von Verbrechen auf allen beteiligten Seiten ganz zu schweigen.
Ute Weinmann