Massenproteste in der Ukraine, und was macht die radikale Linke? Ein Interview mit sergej lukaschow von der anarchistischen Initiative »zaraz.org« aus Kiew.
Wie beurteilt ein politisch aktiver Linker das derzeitige Geschehen in der Ukraine?
An sich liegt das auf der Hand. Das Machtsystem in der Ukraine richtet sich in seiner Gesamtheit gegen die Mehrheit der Bevölkerung. Faktisch haben wir es mit einer Erbfolge des sowjetischen Systems zu tun, allerdings mit einigen unwesentlichen Veränderungen. Kutschma und Janukowitsch fügten dem autoritären Bürokratismus noch eine totale Formen annehmende Korruption hinzu als wichtigsten Mechanismus zur Entscheidungsfindung, und eine Art feudales Clanwesen als Struktur der wechselseitigen Beziehungen von Politik und Wirtschaft. Sein Gegner Juschtschenko gilt als Wirtschaftsliberaler, Anhänger der Einhaltung von Menschenrechten und einer Orientierung auf Westeuropa in der Außenpolitik. Demnach sollte man meinen, er hätte diesem System etwas entgegenzusetzen. Er hätte den entscheidenden Moment nutzen sollen, um das System als solches zu demontieren. Die Macht darf nicht erobert, sondern sie muss in Stücke zerlegt werden. Aber unter den so genannten Anführern der Oppositionsbewegung befindet sich nicht eine einzige strategisch denkende Person.
Auch nicht die Oppositionspolitikerin Julia Timoschenko?
Was ist denn ihre Strategie? Wo ist ihr Programm? Auch sie hat keines. Halbwegs vernünftig wirken für mich der Sozialist Alexander Moroz und sein jüngerer Mitstreiter Lutzenko. Aber Timoschenko verhält sich völlig verantwortungslos. Am Dienstag nach den Wahlen, als alles noch unklar war, also im risikoreichsten Augenblick, rief sie von der Tribüne herab, dass wir die Präsidialadministration stürmen sollen, um den neu gewählten Präsidenten Juschtschenko dort einzuführen. Viele Leute, darunter auch Kinder, sind da hingerannt. Ich war auch dabei und habe mich angesichts der Polizeipräsenz richtiggehend als Kanonenfutter gefühlt. Timoschenko kam dann übrigens erst später hinzu …
Ihre Kritik an Juschtschenko bezieht sich also nicht unbedingt darauf, dass er nicht radikaler vorgegangen ist?
Die Situation an den ersten beiden Tagen nach der Wahl sah doch so aus, dass die Zentralmacht keinerlei Verhandlungen mit der Opposition führte. Unterstützung erhielt diese nur von der Straße und einer Reihe lokaler Räte (gewählte Volksvertretungen, die aber im Unterschied zu den ernannten Verwaltungsorganen kaum über reale Einflussmöglichkeiten verfügen, d. Red.). Wäre Juschtschenko wirklich an einer Demokratisierung der Gesellschaft gelegen, hätte er diesen Moment nutzen müssen, um zu sagen: Die zentralen Machtorgane im Land erkennen mich nicht an, also schaffen wir sie ab, da sie selbst nicht vom Volk legitimiert sind.
Kutschma und Janukowitsch wurde das Vertrauen entzogen, und das Parlament, die Rada, hat sich quasi selbst abgeschafft mit seiner Weigerung, die Leute auf der Straße ernst zu nehmen. Deshalb ist es keine Volksvertretung mehr. Juschtschenko hätte sich direkt an die gewählten Räte auf lokaler Ebene wenden müssen mit dem Aufruf, einerseits ihn als Präsidenten anzuerkennen, andererseits mit der Zusage, diese gewählten Räte gegenüber den von oben ernannten Gebiets- und Stadtteilverwaltungen zu unterstützen. Die bislang kaum mit Vollmachten ausgestatteten lokalen gewählten Volksvertretungen sind die am wenigsten korrumpierte und verdorbene Struktur im Land. Für uns wäre das ideal gewesen, ein riesiger Schritt auf dem Weg zur lokalen Selbstverwaltung.
Hätte Juschtschenko so etwas verkündet, hätte der Osten des Landes da denn mitgemacht? Juschtschenko will schließlich Präsident der gesamten Ukraine werden, nicht nur des Westteils.
Ich denke, der Osten hätte mitgemacht. Auch dort gibt es den Wunsch nach tief greifenden Reformen. Es braucht ein Recht auf Rückruf von Abgeordneten, sowohl auf lokaler als auch auf landesweiter Ebene, die lokalen Räte müssen ihre Funktion als Exekutive zurück erhalten und die Ämter der ernannten Verwaltungsoberhäupter müssen abgeschafft werden. Auch Gerichte müssen wählbar, die Miliz, Sozialämter u.a. rechenschaftspflichtig sein. Steuern müssen zu einem wesentlichen Teil in der Verwaltung der lokalen Vertretungen bleiben, anstatt nach Kiew überwiesen zu werden, außerdem sollten Steuern gezielt für bestimmte Bereiche gezahlt werden, also etwa für Bildung und Kultur. Der Osten hätte allein schon bei einer Forderung nach gerechter Steuerverteilung mitgemacht. Der Löwenanteil davon geht doch nach Kiew, und der Osten hat das administrative Machtsystem selbst über alle Maßen satt. Im Donbass liegt das Lebensniveau unter dem Durchschnitt.
Wie würden Sie die Bewegung gegen Janukowitsch beschreiben?
Die Bewegung ist im Wesentlichen parteilos. Bestenfalls gibt es so eine Art Kern aus einigen stabilen Politgruppen wie »Pora« (Es wird Zeit), aber am Anfang gingen die Leute unorganisiert mit Arbeitskollegen oder Nachbarn auf die Straße. Erst am dritten oder vierten Tag erklärten sich Parteien, Gewerkschaften und einige lokale Verwaltungen solidarisch mit der Opposition, sie machen aber bis heute den kleinsten Teil aus. Disziplin und Selbstorganisation bildeten sich erst im Laufe des Protests heraus. Der Stab von Juschtschenko pocht auf seine Rolle als Koordinator oder Organisator, aber das klappt nicht besonders gut, so dass viele Leute diesen Versuch nicht wirklich ernst nehmen. Inzwischen gibt der Stab übrigens eine Art Ausweis für Teilnehmer der Opposition aus! Aber die Organisation der Zeltlager z.B. liegt zu einem guten Teil in den Händen von Pfadfindern. Gruppen von Journalisten verbreiten auf der Straße Informationen, und es heißt, der Wachschutz der Zeltstädte bestünde unter anderem aus Leuten der extrem nationalistischen UNSO (Ukrainische Nationale Selbstverteidigung). Aber an der Blockade der Präsidialadministration sind nur unorganisierte Leute beteiligt. Natürlich gibt es in der Menge auch Nationalisten und bezahlte Animateure, aber die machen meiner Ansicht nach nur einen sehr geringen Teil aus.
Wie sieht Ihre Prognose für die weitere Entwicklung der Proteste aus?
An sich hat sich der Protest auf der Straße überlebt, die Oppositionsführung will nun auf gesetzlichem Weg weitergehen. Aber die Gesetze stammen aus dem alten System, wir sind also wieder an unserem Ausgangspunkt angelangt. Eine echte Revolution, also eine Demontage des herrschenden Systems, wurde mit aller Kraft von beiden Seiten verhindert. Die unorganisierten Massen hätten mehr Zeit gebraucht, um in Gang zu kommen. Die Bewegung wird noch ein paar Wochen vor sich hin köcheln, insgesamt aber mussten wir eine Niederlage einstecken.
Aber vielleicht ist es doch noch nicht zu spät. Solange die Leute auf die Straße gehen, müssen wir versuchen, mit ihnen Gespräche zu führen und die richtigen Fragen zu stellen, im Wissen, dass sich das Bewusstsein nicht immer schnell genug auf Veränderungen einstellen kann. Wir haben uns mit unserer Gruppe Mühe gegeben und werden es auch weiterhin tun.
interview: vlad tupikin und ute weinmann