Renitente Rentner

Proteste gegen Sozialabbau in Russland 

»Putin ist ein Feind – schlimmer als Hitler«, war auf dem Plakat während der Protestkundgebung in Samara zu lesen, an der überwiegend Menschen im Rentenalter teilnahmen. Ein völlig deplatzierter Vergleich, der aber auch deutlich macht, dass einigen der von den zu Jahresbeginn in Kraft getretenen Reformen besonders Geschädigten jede Ausdrucksweise recht und billig ist, um ihren Unmut kundzutun.

Noch im vergangenen Jahr scheiterten alle Versuche, im ganzen Land Proteste gegen die Verabschiedung einer Vielzahl von Gesetzen zu initiieren, die staatliche Vergünstigungen für mehrere Millionen Menschen durch Barzahlungen aus den Regionen ersetzen soll, die in der Regel gar nicht über die dafür nötigen finanziellen Mittel verfügen. Doch seit Anfang Januar der Personennahverkehr nicht mehr kostenlos benutzt werden darf, ist keine Mobilisierung durch Parteien und Verbände mehr nötig: Nach dem Vorbild protestierender Pensionäre aus dem Moskauer Vorort Chimki blockierten Tausende erboster Demonstranten spontan im ganzen Land zentrale Straßenzüge und legten so zeitweise den Verkehr in etlichen Städten lahm.

Und das ist erst der Anfang. Mittlerweile ertönen auf jeder Kundgebung Rücktrittsforderungen an die Moskauer Regierung und den Präsidenten. Selbst alte Parolen aus Jelzins Amtszeit werden wieder ausgegraben: Die Verantwortlichen für die offenkundige soziale Misere im Land sollten vor Gericht gestellt werden, heißt es. Dabei stellten unlängst gerade die Teilnehmer an den Protesten ein stabiles Wählerpotenzial für Putins Partei Jedinaja Rossija (Einiges Russland). Besonders empört sind viele Rentner darüber, dass sich die antisozialen Maßnahmen ausgerechnet vor dem 60. Jahrestag des Sieges über den Nationalsozialismus auswirken, während die Regierung den Stolz der Nation auf die verdienten Kämpfer verkündet.

Nach anfänglicher Zurückhaltung übertrug der Kreml die Verantwortung für das offenkundige Scheitern der Reform den zuständigen Regionalfürsten. Finanzminister Aleksej Kudrin und Gesundheitsminister Michail Zurabow kommt die Rolle der Sündenböcke in der Regierung zu. Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass alle Beschuldigten ihren Teil beigetragen haben. Kernpunkt der Kritik ist jedoch allein die vermeintlich verfehlte Realisierung der Gesetzesvorhaben, an der grundsätzlichen Richtigkeit der Vorhaben mag niemand zweifeln. Dabei sollte die geplante Umverteilung von Budgetmitteln von Anfang an Sparmaßnahmen auf Kosten des ohnehin längst verarmten Teils der Bevölkerung einleiten.

Nun soll eine vorgezogene Aufstockung der Renten um umgerechnet maximal 30 Dollar Abhilfe schaffen, doch keine der bislang genannten Summen für Kompensationszahlungen geht über die noch anstehende Erhöhung der Ausgaben vor allem im Bereich der Gesundheitsvorsorge und für Wohnraum hinaus, im Gegenteil. Diese Schlussfolgerung dringt langsam selbst ins Bewusstsein derer, die bis vor kurzem noch nicht daran glauben wollten.

Weitere Aktionen sind geplant, und es ist nicht auszuschließen, dass sich die Proteste noch ausweiten, sobald die von den Kürzungen Betroffenen deren ganzes Ausmaß erfassen. Bislang haben sich nur wenige für den Erhalt der schwindenden bürgerlichen Freiheiten eingesetzt. In dem autoritären politischen System Russlands erschien dem Präsidenten Putin auch der Sozialabbau ohne gesellschaftliche Proteste durchsetzbar. Nun bildet sich jedoch zumindest in Ansätzen eine Opposition gegen die offenkundig antisoziale Politik der russischen Regierung.

Ute Weinmann

http://jungle-world.com/artikel/2005/04/14516.html

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