Pensionäre als Speerspitze der Bewegung

Massenhafte Proteste gegen antisoziale Reformen in Russland

Das neue Jahr begann zunächst vielversprechend. Manch einer freute sich aufrichtig über den unlängst faktisch bis zum 10. Januar verlängerten Feiertagsmarathon zum Jahresbeginn, selbst wenn jener Beschluss auf Kosten anderer so beliebter Volksfeste wie dem 7. November oder dem 2. Mai fiel. Aber zum Ende der Verschnaufpause setzte bei vielen russischen StaatsbürgerInnen ein fürchterlicher Kater ein — mit zeitlicher Verzögerung erreichte die Katerstimmung auch den Kreml. Zunächst waren es nur einige Hundert, schließlich jedoch Zehntausende, die ihren Unmut über die Anfang Januar in Kraft getretenen antisozialen Reformen äußerten. Mindestens 30 Millionen Menschen sind von dem Mammutprojekt der Regierung betroffen, ein Großteil von ihnen hat teils erhebliche finanzielle Einbußen zu erwarten. 

Es begann in Chimki, einem Vorort von Moskau, direkt hinter der Stadtgrenze. Etwa 300 Menschen vorwiegend im Rentenalter blockierten eine der Hauptausfallstraßen Moskaus für beinahe drei Stunden und sorgten für ein dementsprechendes Verkehrschaos. PensionärInnen und andere mit zahlreichen sozialen Vergünstigungen ausgestattete Bevölkerungskategorien, welchen bislang die kostenlose Nutzung des öffentlichen Nahverkehrs auch in der benachbarten Megapolis möglich war, müssen seit dem 1. Januar Tickets erwerben. Zwar erhalten sie dafür nach dem neuen Gesetz geregelte Ausgleichszahlungen, diese decken real jedoch nur einen Teil der nun anfallenden Kosten. Gleiches gilt für fast alle anderen Regionen der Russischen Föderation, weshalb auch dort Proteste nicht ausblieben. In Samara, Pensa, Belgorod, Nizhnij Nowgorod, Wladimir, Tatarstan, Ufa, Perm, Omsk, Barnaul, Chabarowsk, Krasnojarsk, Stavropol, Murmansk und zahlreichen anderen Städten fanden spontan organisierte Protestkundgebungen und Blockaden statt. In Sankt Petersburg legten etwa 10.000 Menschen die drei wichtigsten Verkehrsstraßen komplett lahm, in Tomsk setzten mehrere Tausend Protestierende zum Sturm der Gebietsadministration an und provozierten durch ihre entschlossene Belagerung bei eisigen Temperaturen mehrstündige Verhandlungen mit den völlig überrumpelten StaatsdienerInnen.

In einigen Städten waren Solidarisierungsszenen mit RentnerInnen seitens der Miliz zu beobachten, weil diese ebenfalls von den Kürzungen betroffen ist. An anderen Orten wiederum gingen Milizionäre und Angehörige von OMON-Sondereinheiten brutal gegen DemonstrantInnen vor, einige mussten in Krankenhäusern behandelt werden. Ein Mann wurde während einer Straßenblockade von einem Auto zu Tode gefahren. Die regierungskritische Novaya Gazeta berichtete von gezielten Verfolgungen angeblicher RädelsführerInnen. Vor allem Sankt Petersburg machte hierbei von sich Reden, kein Wunder, hat doch die dortige Gouverneurin Walentina Matwijenko nach anfänglichem verständnisvollen Auftreten verkündet, man solle ihr die Aufständischen wenigstens für zwei Wochen vom Leibe halten.

Doch die Welle der Proteste reißt im ganzen Land nicht ab. Schließlich geht es um mehr als nur um ein paar Rubel für den öffentlichen Nahverkehr. Dies dringt nach und nach in das Bewusstsein der von steigenden Preisen und mangelnder sozialer Absicherung ohnehin geplagten Bevölkerung. Besonders verletzend ist gerade für Kriegsveteranen, dass — trotz anders lautender Rhetorik der Regierung — kurz vor den Siegesfeiern zum 60. Jahrestag über den Hitlerfaschismus die verdienstvollen Taten der Kämpfer mit offensichtlich antisozialen Maßnahmen honoriert werden. «Hitler hat uns die Kindheit und Jugend gestohlen, Putin das Alter» war auf Transparenten zu lesen. Erstmals richtet sich der Volkszorn nicht nur gegen die ohnehin missliebige Regierung von Michail Fradkow, sondern gegen den Präsidenten selbst.

DemonstrantInnen legen Verkehr lahm

Kern der Kritik ist das im August 2004 verabschiedete Gesetz Nr. 122, welches eine Reihe staatlicher Subsidien durch Geldzahlungen kompensieren soll. Die Zuständigkeit für etwa 20 Millionen Arbeitsveteranen, Kriegsteilnehmer und unter Stalin politisch Verfolgte wird dabei vom föderalen Zentrum in die Regionen verschoben. Diese dürfen laut Gesetz nun selbst entscheiden, welches Entschädigungsmodell sie präferieren. In jedem Fall müssen die finanziellen Mittel dafür eigenständig aufgebracht werden, Moskau will sich nur mit einem geringen Prozentsatz an den Maßnahmen beteiligen. Allerdings sind nur etwa 18 der insgesamt 89 Verwaltungseinheiten Russlands zahlungsfähig. Selbst die empfohlenen Entschädigungssummen von zwischen umgerechnet fünf bis acht Euro stellen ein Problem dar. Diejenigen, die nicht über einen Wohnsitz in einer der bessergestellten Regionen verfügen, haben demnach schlichtweg Pech gehabt.

Für Kriegsveteranen, Behinderte, HeldInnen der Sowjetunion und Tschernobyl-KatastrophenhelferInnen sind Zahlungen zwischen 10 und 85 Euro aus dem föderalen Budget vorgesehen, einschließlich eines bescheidenen Sozialpaketes. Hinzu kommt eine neue Regelung bei der Verschreibung von Rezepten für kostenlose Medikamente, die in den ersten Wochen zu bedenklichen Engpässen bei der Versorgung chronisch Kranker geführt hat. Bestimmte Artikel sind über die Krankenversicherung gar nicht mehr zu bekommen oder sie müssen von nun an aus eigener Tasche bezahlt werden. Da die Renten oftmals nur für die Deckung der Fixkosten für Heizung, Telefon und Gas reichen, kommt dies in vielen Fällen einer Verkürzung der Lebenserwartung gleich. Der rechte Politclown Wladimir Zhirinovskij, der immer laut aussprechen darf, was andere nur leise denken, vertrat dazu unlängst in der Duma folgende Auffassung: «Wir müssen der Armee, der Wissenschaft und der Jugend mehr geben. Die Alten haben nichts zu tun, ihnen ist langweilig: Ich will ans andere Ende der Stadt fahren. Bleib doch zu Hause sitzen!» (Debatte in der Staatsduma am 18. Januar 2005).

Schlechte Umfragewerte für Putin

Angesichts der vielen Nuancen, die das Gesetzespaket beinhaltet, ist es schwierig, eine Übersicht über alle geplanten Maßnahmen zu geben und diese eindeutig zu bewerten. So konnten z.B. bislang viele BewohnerInnen ländlicher Gebiete von den staatlichen Vergünstigungen kaum profitieren. Für sie ist die kostenlose Nutzung von Bussen nur wenig relevant, weshalb gerade dort meist für Geldzahlungen plädiert wird. Aber auch wenn auf Protestkundgebungen die Forderung nach der Wiederherstellung des alten Systems nichtmaterieller Subsidien überwiegt, (welches im übrigen mitnichten ein Überbleibsel aus sowjetischen Zeiten darstellt, sondern unter Jelzin zur Abfederung seines liberalen Crash-Kurses eingeführt wurde), sollten daraus keine falschen Schlüsse gezogen werden. Eine Umfrage des Gesundheitsministeriums noch in der Planungsphase des Gesetzes ergab, dass sich die überwiegende Mehrheit mit einer Kompensation von 1000 bis 2000 Rubeln monatlich zufrieden geben würde. Das wären umgerechnet etwa zwischen 28 und 56 Euro.

Aber der Kreml will sparen — und dies auf Kosten der ärmsten Bevölkerungsschichten. Die für die Reformen aus dem föderalen Budget zusätzlich bereitgestellten Summen einschließlich der um mehrere Monate vorgezogenen regulären Rentenerhöhungen werden vermutlich durch die in diesem Jahr zu erwartende Inflation von über 12% zumindest teilweise wieder ausgeglichen. Durch die Reformen passt Russland zudem seine Gesetzgebung in einem weiteren Schritt den Vorgaben der WTO an und forciert somit seinen geplanten Beitritt. Aber entscheidender ist ein anderer Aspekt der Reform. Moskau gibt die Verantwortung für die offensichtliche soziale Misere im Land, wonach mindestens ein Drittel der Bevölkerung unter der Armutsgrenze lebt, an die Regionen ab. Dies geschieht zu einem Zeitpunkt, wo sich Präsident Wladimir Putin weitere einschneidende Änderungen in der politischen Verfasstheit Russlands leistet, nämlich die faktische Abschaffung der Gouverneurswahlen in den Regionen und deren Ernennung durch ihn höchstpersönlich.

Die Regionalfürsten werden durch die neu geschaffenen direkten und indirekten Abhängigkeiten aus dem föderalen Zentrum manipulierbarer. Auf den ersten Blick kommt dies einer Machterweiterung und Stabilisierung des Putinschen Herrschaftsmodells gleich, was gerne mit dem Begriff «Machtvertikale» umschrieben wird. Bislang gelang es dem Präsidenten selbst in heiklen Fragen wie dem Untergang der Kursk, sein wichtigstes politisches Kapital zu wahren, nämlich seine scheinbare Unantastbarkeit. Womöglich wurde dem Beliebtheitsgrad des Präsidenten ein nicht wieder gutzumachender Schaden zugefügt, nie waren seine Umfragewerte auf einem so konstanten Tiefpunkt. Lediglich 42% würden für ihn stimmen, wohingegen vor einem Jahr noch 65% dazu bereit waren. 24% der Befragten erklärten, sie würden Putin ihr Vertrauen aussprechen (Alle Angaben stammen aus der jüngsten Umfrage des «Fond Obschtschestwennoje mnenije». Andere Institute kommen zu ähnlichen Ergebnissen).

Noch weit mehr hat das Image der Kreml-Hauspartei Jedinaja Rossija (Einiges Russland) durch die antisozialen Maßnahmen gelitten, und nicht wenige munkeln, dies sei der Anfang vom Ende. Mit dazu beigetragen hat der Umstand, dass die Dumaabgeordneten jüngst weit reichende und kostspielige Vergünstigung für sich selbst genehmigt haben. Dies darf als reiner Hohn gegenüber den VerliererInnen des russischen Wirtschaftsliberalismus gewertet werden und als Zeichen dafür, wie sicher und unangefochten sich die politische Elite fühlt. Mit solch vehementem Widerstand auf der Straße wie in den vergangenen Wochen hatte niemand gerechnet, sind doch Massenproteste in Russland längst zu einem historischen Phänomen verkümmert. Allerdings hatte bereits im Vorfeld die so genannte orangene Revolution in der Ukraine für einige Panik im Kreml gesorgt. Zwar ist man sich einig, dass sich jenes Szenario in Russland nicht wiederholen könne — was nicht zuletzt dem Umstand geschuldet ist, dass ein Wahlkampf zweier mehr oder weniger gleich aussichtsreicher Kandidaten bei Präsidentschaftswahlen unter den derzeitigen politischen Bedingungen auszuschließen ist — doch es wird langsam deutlich, dass die Geduld der vermeintlich so leidensfähigen Bevölkerung ihre Grenzen hat.

Sparen auf Kosten der Ärmsten

Vorerst greift die politische Führung auf alt bewährte Methoden zur Schadensbegrenzung zurück. Das Gesetz an sich sei richtig, nur an der Umsetzung hapere es, ist zu hören. Das Staatsfernsehen unterschlägt in seiner Berichterstattung das Ausmaß und die Ausrichtung der Proteste, gleichzeitig wird ungewöhnlich ausführlich über eine antisemitische Hetzkampagne einer Reihe von Dumaabgeordneten berichtet. Wenige Tage vor den Feierlichkeiten zum 60. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz stellten u.a. VertreterInnen der Kommunistischen Partei KPRF und der Fraktion «Rodina» (Heimat) alle jüdischen Organisationen in Russland grundsätzlich unter Terrorismusverdacht. Sie reichten bei der Staatsanwaltschaft einen Antrag auf deren Verbot ein, zogen diesen anderntags jedoch aus unbekannten Gründen wieder zurück. Keine Frage, dies ist ein Skandal und verdient entsprechende Aufmerksamkeit. Doch der Umstand, dass erst mehrere Tage ins Land ziehen mussten, bis die regierungsnahen Sender über den Skandal berichteten, und die Tatsache, dass der Kreml sich diesem Motiv vorzugsweise in Momenten der politischen Bedrängnis bedient, erweckt nicht den Eindruck aufrichtiger Besorgnis. Vielmehr liegt die Vermutung nahe, dass einerseits die Intelligenzija davon abgehalten werden sollte, über eine eventuelle Solidarisierung mit den unzufriedenen Volksmassen zu reflektieren. Andererseits werden durch die Kampagne allseits beliebte und nach wie vor in weiten Teilen der russischen Gesellschaft tragbare Inhalte transportiert, wonach an allem Übel die Juden im Allgemeinen und jüdische Regierungsmitglieder im Besonderen Schuld tragen.

Von echten Zugeständnissen ist die Regierung so weit entfernt wie eh und je. Die Proteste der vergangenen Wochen sollen jedoch fortgeführt werden, und zumindest auf lokaler Ebene sind Teilerfolge zu Gunsten der von der antisozialen Politik Putins am meisten Betroffenen nicht auszuschließen.

Ute Weinmann

ak Nr. 492

 

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