In Russland häufen sich Proteste gegen Lohnkürzung und Sozialabbau
Ob in den Metropolen Moskau und St. Petersburg, im fernen Osten nahe der chinesischen Grenze oder im Nordkaukasus – es vergeht in Russland kaum ein Tag, an dem keine Protestaktion statt findet. Die Themenpalette ist vielfältig, denn Anlass zum Protest gibt es in dem von der internationalen Geschäftswelt für seine aufstrebende Wirtschaft und riesigen Rohstoffvorkommen geschätzten Land zur Genüge. Forderungen nach Verbesserung der arbeitsrechtlichen Situation und Lohnerhöhungen gehen einher mit Widerstand gegen zahlreiche illegale Bauvorhaben in den Ballungsgebieten und die Einfuhr von Atommüll aus Deutschland und den Niederlanden.
Russland ist sowohl ein Land der MilliardärInnen als auch der GeringverdienerInnen, daran ändert auch die wachsende Mittelschicht nichts. Die Inflation betrug im vergangenen Jahr 12 Prozent, die rasanten Preiserhöhungen bei Lebensmitteln machen sich bei der Hälfte der russischen Haushalte deutlich bemerkbar und immer häufiger gehen jene einher mit der Streichung bestimmter Produkte vom Einkaufszettel. So liegt beispielsweise der Preis für ein Liter Milch mit 1,40 Euro über dem in Westeuropa üblichen. Mit administrativen Methoden versucht die russische Regierung den horrenden Preissteigerungen Einhalt zu gebieten, zumindest bis Anfang Mai, also bis zur geplanten Amtseinführung des designierten Nachfolgers des amtierenden Präsidenten Wladimir Putin, Dmitrij Medwedjew. Aber selbst wenn sich einige Lebensmittelketten an die getroffenen Absprachen halten und bestimmte Grundnahrungsmittel wie Brot oder Pflanzenöl zu gemäßigten Preisen verkaufen, dann kompensieren sie die Gewinnverluste durch Überteuerung anderer Produkte.
Dazu kommt der Klassiker der 1990er Jahre, nämlich Lohnrückstände. Die russische Statistikbehörde Rosstat veröffentlichte Anfang November letzten Jahres Daten, wonach insgesamt beinahe vier Milliarden Rubel, das sind umgerechnet etwa 112 Millionen Euro, an Lohnzahlungen für 300 Tausend LohnempfängerInnen in ganz Russland ausstehen. Dabei machen kurzzeitige Lohnrückstände über einen Monat lediglich 26 Prozent aus, während fast die Hälfte der genannten Summe bereits seit zwei Jahren oder länger nicht ausbezahlt wird.
Allein umgerechnet etwa 800 Tausend Euro fallen auf das Papierkombinat in Krasnowischersk im Permer Gebiet. Die Stadtverwaltung erklärte die Rückstände mit dem häufigen Eigentümerwechsel in den vergangenen Jahren. Bisherige Proteste hatten nur kleine Zugeständnisse ergeben, weshalb am 31. Januar insgesamt 143 ArbeiterInnen des Werks in den Hungerstreik getreten sind, deren Gehalt selbst bei voller Lohnzahlung im Schnitt bei lächerlichen 5.000 Rubel liegen, also knapp über 140 Euro. Der Hungerstreik geriet nun immerhin zum Anlass ein Strafverfahren gegen den derzeitigen Eigentümer, Wladimir Belkin, einzuleiten.
Hungerstreik als letzte und verzweifelte Maßnahme im Arbeitskampf ist in Russland als Phänomen relativ häufig anzutreffen. Das liegt nicht zuletzt an der Rolle der offiziellen Gewerkschaften, denen der Schutz der Arbeitgeberrechte im Regelfall näher steht als die Interessenvertretung der ArbeitnehmerInnen, und dem schwachen Stand der unabhängigen Gewerkschaften. Das Arbeitsrecht in seiner Fassung aus dem Jahr 2002 macht überdies die legale Durchführung eines Streiks fast unmöglich. Damit wurde unlängst die Eisenbahnergewerkschaft RPLBZ konfrontiert. Deren für den 28. November 2007 vorgesehener Streik scheiterte an einem gerichtlich durchgesetzten Streikverbot.
Das Verbot war abzusehen, denn die öffentliche Resonanz wäre ungleich höher ausgefallen als bei ähnlichen Protesten in einem Einzelunternehmen und die Folgen unabsehbar. Die teilprivatisierte russische Eisenbahn legt viel Wert auf ein positives Image. Bis dahin berichtete das staatliche Fernsehen ausschließlich über Lohnerhöhungen bei den Lokomotivführern, die allerdings mit der Streichung von Zuzahlungen, wie beispielsweise für Dienstjahre, und Erhöhung des monatlichen Solls einhergingen. Im Endeffekt reichten die Beträge der ausbezahlten Gehälter über die Ebene der ursprünglichen umgerechnet etwa 500 bis 600 Euro nicht hinaus. Durch veraltete Technik, Überlastung und die extrem schlechten Arbeitsbedingungen, so betonen die Lokführer, sei außerdem die Sicherheit der Passagiere stark gefährdet. Doch in der Chefetage der Eisenbahn profiliert man sich lieber mit dem Einkauf neuer Hochgeschwindigkeitszüge bei Siemens, anstatt sich mit den komplexen Forderungen der Lokführer auseinander zu setzen.
Größere Aufmerksamkeit erreichte der Streik im Fordwerk nahe St. Petersburg, welcher vom 20. November bis 14. Dezember letzten Jahres andauerte. Nach Verhandlungen erklärte sich das Management bereit, bis Anfang Februar einen Vorschlag zu unterbreiten. Die zugestandenen Lohnerhöhungen decken allerdings gerade mal die Inflationsrate ab. In einer Abstimmung wollen die Beschäftigten nun einen Entschluss fassen. Sollte dieser gegen das Angebot der Werksleitung ausfallen, ist die Fortsetzung des Streiks im Frühjahr nicht ausgeschlossen.
Aus der von staatlicher Willkür, Anschlägen und Auftragsmorden geprägten Republik Dagestan, die zwischen dem Kaspischen Meer und Tschetschenien gelegen ist, hätte bis vor kurzem noch kaum jemand öffentliche Protestaktionen für möglich gehalten. Doch ausgerechnet in deren Hauptstadt Machatschkala häuften sich im Dezember und Januar die Aktivitäten zahlreicher BürgerInnen gegen die regelmäßigen Abschaltungen von Strom und Heizung. Bis zu 1.000 Menschen gleichzeitig beteiligten sich an Straßenblockaden in der gesamten Stadt.
In Moskau wiederum dominieren Proteste gegen illegale Bauvorhaben und Bebauungspläne, welche die ohnehin spärlichen Grünflächen und Spielplätze in Wohngebieten durch Megahochhäuser ersetzen. Die Moskauer Stadtverwaltung geht insgesamt von 300 Problemzonen aus. Mit Beschwichtigungen und leeren Versprechungen werden die AnwohnerInnen hingehalten. Diese wollen ihr Mitspracherecht geltend machen, sehen ihre Stärke jedoch nicht am Verhandlungstisch, sondern auf der Straße.
ute weinmann
ak 525