Zensur gegen die Krise

Trotz beruhigender Erklärungen von staat­lichen Stellen sind die Anzeichen einer Wirtschaftskrise in Russland mittlerweile kaum zu übersehen. Die Arbeitslosigkeit nimmt zu, und in verschiedenen Industrie­sektoren stehen Massenentlassungen bevor. Insbesondere die steigende Streikbereitschaft in den größeren Betrieben macht der Regierung Sorgen.

Seit der ersten Parlamentsrede des russischen Präsidenten Dmitrij Medwedjew Anfang November ist offiziell, was zuvor ohnehin bereits alle zu wissen glaubten. Die alleinige Schuld an der glo­balen Wirtschaftskrise und damit auch an deren negativen Folgen für Russland tragen die USA.

Diese einfache Logik macht sich auch bei den protektionistischen Maßnahmen bemerkbar, die bisher gegen die Krise getroffen wurden. Die russische Regierung konzentriert sich dabei in erster Linie auf die Stärkung des Finanzsektors und beschränkt sich darauf, die unmittelbaren Fol­gen der Krise für russische Unternehmen abzuschwächen. Eine umfassendere Analyse müsste jedoch die Abhängigkeit von Rohstoffexporten und das offensichtliche Modernisierungsdefizit in der russischen Wirtschaft aufgreifen und würde notwendigerweise weitreichende Konsequenzen für den während der Präsidentschaft von Wladimir Putin erstarrten russischen Staatsapparat nach sich ziehen.

Russlands Superreiche haben durch die Entwertung ihrer Unternehmensanteile seit Jahresanfang etwa 300 Milliarden Dollar Verlust gemacht. Anzeichen einer Krise sind derzeit nicht schwer zu er­kennen. Besonders betroffen ist beispiels­wei­se der gesamte Bausektor. Investoren ziehen sich rei­henweise zurück, Banken streichen Kredite. Selbst nationale Prestigeprojekte, wie die beiden großen Türme im neuen Moskauer Ge­schäfts­vier­tel Moskwa-City, sind vorerst eingestellt worden.

Die zunehmende Arbeitslosigkeit ist mitt­lerweile Thema bei wöchentlichen Treffen von Vertretern des russischen Unternehmerverbands, des Ministeriums für Gesundheit und soziale Ent­wicklung und der Gewerkschaften. Neulich hieß es noch im Ministerium, die Krise mache sich auf dem Arbeitsmarkt nicht bemerkbar. Doch inzwischen werden Prognosen über Massenentlassungen laut. Allein bis zum Jahreswechsel könnten 200 000 Menschen ihren Arbeitsplatz verlieren. Nach Angaben der Statistikbehörde Rosstat waren im Oktober etwa 4,6 Millionen Men­schen arbeitslos, 1,7 Prozent mehr als im Vormonat. Gleich­zeitig aber sank die Zahl der gemel­deten Arbeitslosen seit Anfang des Jahres konstant und beträgt derzeit offiziell etwa 1,2 Millionen.

Die Differenz der ermittelten Daten lässt sich leicht erklären. Bei den geltenden Niedrigsätzen der staatlichen Arbeitslosenunterstützung lohnt sich der Aufwand, sich arbeitslos zu melden, nur dann, wenn die betreffende Person über keinerlei Rücklagen verfügt. In der Regel lebt man für eine Übergangszeit lieber vom Ersparten. Von den bisherigen Entlassungen ist zudem hauptsächlich die unterste Managementschicht betroffen, die abwertend als ofisnyj plankton bezeich­net wird. Gemeint ist damit gering oder gar nicht qualifiziertes Büropersonal im Finanzsektor, in Werbeagenturen und ähnlichen Branchen, das als ineffektiv und überbezahlt verschrien ist. Über kurz oder lang stehen jedoch auch in produzierenden Betrieben Massenentlassungen an.

Im Oktober löste die allgemeine Erwartung einer bevorstehenden Entwertung des Rubels in den russischen Großstädten eine Panikreaktion aus. Die Nachfrage nach Euro und Dollar im Tausch gegen Ersparnisse in russischen Rubeln stieg innerhalb kürzester Zeit rasant an. Auch Geldanlagen in Form von Edelsteinen und Gold gewinnen an Popularität. Einige Banken verweigern nun die Auszahlung größerer Beträge und verzögern Überweisungen. Auch Lohnauszahlungen erfolgen häufiger mit Verspätung, die Reallöhne sinken. Aber ein Totalcrash wie im August 1998, als die russische Bevölkerung einen Großteil ihrer Ersparnisse verlor, blieb aus.

Jewgenij Gontmacher, Leiter des Zentrums für Sozialpolitik am Wirtschaftsinstitut der russischen Akademie der Wissenschaften, veröffentlichte Anfang November in der Tageszeitung Wedomosti ein spekulatives Szenario, in dem prophezeit wird, wie sich die Krise langsam ausweitet, vereinzelte Kritik sich zum offenen kollek­tiven Protest wandelt und Arbeitslose den lokalen Machtapparat in Bedrängnis bringen. Es endet mit der Vision, dass durch die Krise die längst anstehende politische und ökonomische Modernisierung Russlands eingeleitet werden könnte. Andernfalls sei ein Ausweg im Rahmen der verfassungsrechtlichen Ordnung undenkbar.

Nicht zufällig wählte Gontmacher als Schauplatz die südrussische Industriestadt Nowotscher­kassk. Dort wurde Anfang Juni 1962 eine spon­tane Demonstration von Arbeitern, die gegen hor­rende Preissteigerungen für Lebensmittel bei gleichzeitiger Tarifsenkung protestierten, gewalt­sam niedergeschlagen, 20 Menschen starben. Die Erinnerung an diese Ereignisse halten in Russland nur wenige wach, im Staatsapparat will man davon gar nichts hören. So verwundert es kaum, dass der Staat nach zwei Wochen auf Gontmachers Text reagierte. Die Medienaufsichtsbehörde ermahnte die Zeitungsredak­tion, da der Artikel als zu »extremistischen Taten aufrührend« gewertet werden könne.

Mitte November begann die Generalstaats­anwaltschaft damit, die Medienberichterstattung über die Folgen der Wirtschaftskrise systematisch zu überprüfen. An die lokalen Staatsanwälte erging der Auftrag, insbesondere »gegen Banken gerichtete Informationsattacken« aufzudecken und diesen entgegenzuwirken. Mit Zensur habe das nichts zu tun, so lautete der Kommentar aus der Pressestelle der Staatsanwaltschaft gegenüber der russischen Tageszeitung Kommersant. Vielmehr müssten Informationen auf ihren Wahr­heitsgehalt überprüft werden. Gemeint sind insbesondere Nachrichten über einen tatsächlichen oder vermeintlich bevorstehenden Bankrott. So wurden beispielsweise Kunden der Dalkombank aus Wladiwostok per SMS über die bevorstehende Pleite der Bank benachrichtigt. Daraufhin hoben sie innerhalb von drei Tagen insgesamt etwa 68 Millionen Euro von ihren Konten ab. Die Medien berichten in solchen Fällen ausgiebig, was ihnen den Vorwurf einbrachte, unnötige Panik zu schüren und den Ruf ehrwürdiger Kreditinstitute zu schädigen.

Zu den Maßnahmen darf man wohl auch eine ganze Reihe gewalttätiger Übergriffe auf in Gewerkschaften, sozialen Bewegungen und der Um­weltbewegung aktive Menschen zählen. Mitte November verdichteten sich zielgerichtete Angriffe. Einige Personen wurden innerhalb kürzester Zeit mehrmals tätlich angegriffen. Auch wenn bislang nicht bekannt ist, von wem die Gewaltakte initiiert wurden, drängt sich dennoch die Frage auf, ob ein Zusammenhang mit dem kurz zuvor formulierten Aufruf des russischen Premierministers Wladimir Putin an die regionalen Repräsentanten seiner Hauspartei Einiges Russland besteht. Diese sollten genaue Informationen über die Streikbereitschaft insbesondere in den Belegschaften großer Industriebetriebe sammeln, um etwaige Widerstandsherde sofort schwächen zu können.

Ute Weinmann

http://jungle-world.com/artikel/2008/49/31717.html

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