Neonazi-Gewalt in Rußland nimmt zu

Obwohl das Jahr 2008 noch nicht zu Ende ist, lässt sich eine Bilanz bereits mit Sicherheit ziehen: die Anzahl der seit Januar in Russland verübten rassistischen Morde liegt mit derzeit 85 erfassten Fällen deutlich über dem Vorjahresniveau von 73 Morden. Damit setzt sich eine erschreckende Tendenz fort, die bereits über Jahre andauert.

Besonders im vergangenen Frühjahr — den Monaten vor der Präsidentschaftswahl — häuften sich gewalttätige Übergriffe. Auf Moskaus Straßen eskalierte die brutale Gewalt gegen «nicht-slawisch aussehende Menschen» aus Mittelasien und dem Kaukasus. Betroffen sind aber auch jene, die eindeutig gegen den rechtsextremen Terror Stellung beziehen.

In den Medien nimmt das Interesse an Berichten über rassistische Gewalt trotz deren Anstieg sichtbar ab. Vielleicht steckt ein Gewöhnungseffekt dahinter. Der Hauptgrund aber liegt nach Ansicht von Galina Kozhewnikowa, der stellvertretenden Direktorin des Zentrums SOVA, aber woanders: «Informationen über rassistisch motivierte Gewalttaten werden offensichtlich von der Miliz geblockt.» Auch seien immer weniger Augenzeugen bereit über ihre Erlebnisse in der Öffentlichkeit zu sprechen, geschweige denn sich an die Miliz zu wenden.

Immer wieder gibt es Hinweise darauf, dass der Staatsapparat die Verbreitung unerwünschter Informationen zumindest steuert. Mitte August verkündete die Gouverneurin von St. Petersburg, Walentina Matwienko, dass im ersten Halbjahr keine einzige extremistische Straftat begangen wurde. Dabei hatten Neonazis im genannten Zeitraum bereits dreizehn Menschen in der Stadt und im Umland ermordet. Es dauerte Wochen, bis in den Medien wieder erste Meldungen über rassistische Übergriffe auftauchten.

Dabei kann man zumindest dem russischen Justizwesen nicht vorwerfen, dem Treiben rechtsextremer Gewalttäter gänzlich tatenlos gegenüber zu stehen. Im November gab der stellvertretende Moskauer Polizeichef, Iwan Gluchow, bekannt, seiner Behörde sei es in den vergangenen zwei Jahren gelungen, sieben extremistische Jugendbanden zu stoppen, die durch brutale Gewalttaten mit rassistischem Hintergrund aufgefallen waren. Die Mehrheit deren Mitglieder sei an Hochschulen eingeschrieben, ein Fünftel davon war zum Zeitpunkt der Festnahme noch nicht volljährig.

Jugendliche wegen mehrfachen Morden vor Gericht

Allein in diesem Jahr fanden mehrere Aufsehen erregende Strafprozesse gegen rechtsextremistische Jugendbanden wegen Mordes und schwerer Körperverletzung statt. Mit Urteilen zwischen drei und zehn Jahren Freiheitsentzug endete im September der Prozess gegen die «Bande Kolinitschenko». Das Moskauer Stadtgericht sah die Schuld aller insgesamt 13 Angeklagten aus der Neonaziszene als erwiesen an. Anfang Dezember sprach ein Moskauer Geschworenengericht sieben Angeklagte der «Bande Ryno» schuldig, denen Mord in zwanzig Fällen vorgeworfen wird. Am 15. Dezember wurde das Urteil verkündet: Die beiden Hauptangeklagten erhielten jeweils zehn Jahre, da sie zum Zeitpunkt der Tat noch nicht volljährig waren. Der einzige über 18-jährige Angeklagte erhielt 20 Jahre.

Nur selten liegen Beweise für die Zugehörigkeit zu einer festen Struktur innerhalb der rechtsextremen Szene vor. Demnach kommt es kaum zu Urteilen gegen Mitglieder bekannter Organisationen, wie beispielsweise des neofaschistischen «Slawischen Bundes». Der Moskauer Anwalt Stanislaw Markelow, der bereits in zahlreichen Verfahren die Interessen von Opfern rechtsextremer Gewalt vertrat, begründet dies mit dem Umstand, dass die verschärfte Strafverfolgung dazu führt, dass Neonazis immer gründlichere Vorsichtsmaßnahmen treffen und ihre Mitgliedschaft in einem größeren Verband grundsätzlich abstreiten. Außerdem fehle es an einer brauchbaren Statistik mit zuverlässigen Angaben. Gleichzeitig agieren viele Gruppen tatsächlich völlig unabhängig, nur ideologisch orientieren sie sich an den in der Öffentlichkeit präsenten rechtsextremistischen Verbänden.

Während sich die staatliche Politik also auf die Verfolgung von Straftaten konzentriert, wendet sie sich von möglichen Ursachen ab. Selbst hochrangige Politiker bedienen sich einer durch und durch nationalistischen Rhetorik. So verkündete der stellvertretende Leiter des Bildungsausschusses der Staatsduma, Viktor Schudegow, nach dem Kriegseinsatz in Georgien: Die georgische Nation könne sich nur deshalb erhalten, weil sie unter dem Schutz der russischen Großmacht stand. Gleichzeitig schürt der Staat mit populistischen Maßnahmen die vorhandenen Ressentiments gegen Migranten. So dürfen Ausländer — angeblich im Interesse der angestammten Bevölkerung — keine Waren auf den Märkten verkaufen.

Hetzkampagnen gegen Migranten

Bei Umfragen der unabhängigen Meinungsforscher des Lewada-Zentrum vom vergangenen Oktober gaben 55 Prozent der Befragten an, nicht feindlich eingestellt zu sein gegenüber Menschen anderer Nationalitäten, während zehn Prozent von sich sagen, dies sei bei ihnen häufig der Fall. Für ein «Russland für Russen» sprechen sich über die Hälfte der Bürger aus. Diese Zahlen schwanken kaum in den vergangenen Jahren.

Geändert hat sich der offizielle Diskurs: die gesamte Aufmerksamkeit ist darauf gerichtet, ob und in welchem Maße die Zuwanderung ausländischer Arbeitsmigranten eingeschränkt oder gar gestoppt werden sollte. Mit Verweis auf die Wirtschaftskrise veranlasste Premierminister Wladimir Putin Anfang Dezember, die Quoten für das kommenden Jahr zu senken. Kreml nahe Jugendorganisationen hatten zuvor gefordert, die Quoten ganz zu streichen. Über Wochen dauerte eine durch die «Bewegung gegen illegale Immigration» (DPNI) initiierte Hetzkampagne gegen Migranten. Auslöser war der Mord an der 15-jährigen Anna Beschnowa im Westen von Moskau, den ein usbekischer Gastarbeiter begannen haben soll. Am Abend des 4. November, dem «Tag der Volkseinheit», griffen Neonazis zwei usbekische Männer in jenem Stadtteil mit Messern an. Ein Mann erlag seinen schweren Verletzungen.

Wer dagegen nach einer kritischen Aufarbeitung der russischen Kolonialgeschichte sucht, stößt auf Unverständnis. Rechtsextreme wie die Nationalsozialistische Gesellschaft (NSO), nutzen den Mangel an Informationen und Aufarbeitung schon lange für ihre Propaganda. Da waren die russischen Aufbauhilfe in den ehemaligen Sowjetrepubliken «uneigennützig» und Hitler war ein großer Staatsmann und ein würdiger Gegner, dessen Wehrmacht Russland glücklicherweise überlegen war.

Im Hier und Jetzt allerdings sucht die extreme Rechte nach neuen Betätigungsfeldern. Bis vor Kurzem zeigten offen rechtsextremistische Strukturen kaum Präsenz in den neuen sozialen Protestbewegungen, die seit Anfang des Jahres 2005 zusehends an Bedeutung gewinnen. Damals machten im ganzen Land Zehntausende ihrer Empörung über die Streichung zahlreicher sozialer Vergünstigungen insbesondere für Rentner Luft. Heute organisieren sich Mitglieder nationalistischer Organisationen immer häufiger in Gruppen, deren Ziel die Unterwanderung sozialer Bewegungen ist. Immer bieten sie dabei ihre konkrete Hilfe an: So unterstützt der Studentenbund der «Bewegung gegen illegale Immigration» die Anliegen der Studentenschaft, Nationalisten unterschiedlicher Couleur beteiligen sich an lokalen Protesten gegen illegale Bauvorhaben. Ihre Ideologie spielt dabei erstmal eine untergeordnete Rolle, sie hoffen, dass sich ihr Engagement auf lange Sicht auszahlen wird.

Ute Weinmann

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