Schwieriges Outing

In Moskau können Homosexuelle etwas offener leben als in anderen Städten Russlands. Hier haben sie eine Infrastruktur, die allerdings nicht vor homophober Gewalt und vor Repressalien durch die Polizei schützt. Die Politisierung der gleichgeschlechtlichen Bewegung in Russland gestaltet sich schwierig, denn viele Lesben, Schwule, Bisexuelle und Transgenders haben Angst vor Sichtbarkeit.

»Warum wollen diese scheiß Schwulen eine Parade durchführen? Paraden sind den Siegern vorbehalten – haben sie etwa gewonnen?« Auf die Frage eines anonymen Veteranen hatte ein Autor der nationalkonservativen Zeitung Russischer Beobachter folgende Antwort parat: »Womöglich haben sie eine Schlacht gewonnen, nicht aber den Krieg. Einen Krieg werden sie im orthodoxen Russland nie gewinnen.« Nikolaj Aleksejew, Leiter des Projekts GayRussia und Hauptinitiator des vierten Versuches, in Moskau eine Gay-Pride-Parade zu veranstalten, frohlockte hingegen am Tag nach der diesjährigen Veranstaltung in seinem Weblog. »Wir haben wieder gewonnen. Die slawische Gay Pride wurde zum erfolgreichsten und am besten gecoverten Gay-Ereignis in der Geschichte Russlands.«

Dass sich in diesem Jahr mehr Journalisten als gewöhnlich für den Kampf der russischen Schwulen- und Lesbenbewegung für die Anerkennung ihrer Rechte interessierten, lag nicht zuletzt am guten Timing. Am 16. Mai fand in der russischen Hauptstadt das Finale des europäischen Schlagerwettbewerbs Eurovision Song Contest statt. Allerdings hielt selbst die internationale Präsenz die Moskauer Behörden nicht davon ab, die von Aleksejew angemeldete Demonstration zu verbieten. Der langjährige Moskauer Bürgermeister Jurij Luschkow wird, solange er sein Amt bekleidet, keine Gay-Pride-Parade genehmigen, so viel steht fest. Er gilt als Hardliner, wenn es um Verbote oppositioneller Demonstrationen geht und wird seinen Ruf kaum riskieren wollen zugunsten einer »satanistischen« Veranstaltung, wie er die Gay-Prise-Pride bezeichnete.

Luschkows Nachfolger könnte durchaus eine liberalere Linie fahren, aber noch wagt niemand im Kreml, trotz immer wieder auftauchender Gerüchte, am Thron des Moskauer Stadtherrn zu rütteln. Zu sehr haben er und seine Frau Jelena Baturina – die reichste Frau Russlands – die Verhältnisse in der Hauptstadt geprägt.

»Moskau ist ein schwieriges Terrain«, findet der 31jährige schwule Aktivist Aleksej Dawydow. »Hier können sich Homosexuelle mehr erlauben als in einer Kleinstadt und sich der Illusion hingeben, die Verhältnisse seien akzeptabel.«

In der Tat gibt es eine weitläufige Infrastruktur der Lesben- und Schwulenszene. Einige Buchläden vertreiben einschlägige Literatur, bereits seit Jahren existiert eine lesbische Bibliothek, wo neben Lesungen auch kulturelle Veranstaltungen stattfinden. Im Hof gegenüber der Moskauer Stadtduma befindet sich »Indigo«, der einzige Laden für Schwule, in dem es von Büchern bis hin zur szenigen Unterhose alles zu kaufen gibt. Zahlreiche Clubs wie das »Matriarchat«, »La Femme« oder »12 Volt« halten ihre Pforten für Lesben und Schwule offen. Wer das Eintrittsgeld nicht aufbringen kann oder will und dennoch auf neue Kontakte aus ist, sucht die seit der Perestrojka etablierten Treffpunkte im Zentrum auf. Schwule haben ihren festen Platz an einer Kapelle gegenüber dem russischen Präsidialamt, Lesben am Denkmal für den Dichter Sergej Jesenin etwa 30 Minuten zu Fuß davon entfernt. Zu Zwischenfällen mit der Polizei kommt es dort extrem selten, diese Orte sind alles in allem unspektakulär und entsprechen keineswegs den von Moralhütern verbreiteten Schreckensszenarien. Nach wie vor aber sind ungestörte soziale Kontakte zwischen Homosexuellen zum großen Teil in die Küche verbannt, ganz wie zu Sowjet­zeiten. Und so hält es mangels Geld auch Aleksej.

Die Moskauer Pride-Parade hat in anderen russischen Städten keine Entsprechung. Aber auch in der Hauptstadt wird die Veranstaltung nur von einer Minderheit offen unterstützt. Die Verfechter der Parade werden mit teils heftiger Kritik konfrontiert, auch und gerade von Lesben, Gays, Bisexuellen und Transgenders – kurz LGBT. Einige finden, der »Spaziergang« sei nur eine kommerzielle Glitzer-Veranstaltung, die von den wesentlichen Problemen wie Gewalt, alltäglicher Diskriminierung und rechtlicher Gleichstellung von homosexuellen Menschen ablenkt. Andere dagegen haben schlicht Angst vor Sichtbarkeit und sehen durch die Parade den Status quo gefährdet.

Aleksej kann ein Lied davon singen. Er gehörte anfangs noch dem Organisationskomitee der Parade an, seit einiger Zeit baut er aber eigene Strukturen auf. Dabei stützt er sich lieber auf Leute aus der Provinz. »Für sie ist der Handlungsdruck erheblich größer«, sagt er. Aleksej hält erfolgreichen Schwulen wie Eduard Mischin, dem Betreiber von »Indigo« und Chefredakteur der Publikationen Gay.ru und Queer, vor, durch ihre Distanzierung von der Gay-Pride-Parade lediglich ihre ureigensten kommerziellen Interessen zu schützen. »Man will sich keinen überflüssigen Ärger einhandeln, fürchtet aber auch neue Konkurrenten auf dem Markt, sollte es zu einer Popularisierung der homosexuellen Kultur über die bekannten Grenzen hinaus kommen.« Aleksej teilt die russische LGBT-Community in zwei Flügel: Radikale, die in der Verfassung verankerte Rechte einfordern und sich dem politischen Kampf verschrieben haben, und eine »softe« Fraktion, die sich von einer zurückhaltenden Aufklärung mehr Erfolg verspricht und sich bestenfalls für die Rechte homosexueller Paare auf Kinderadoption einsetzt. »Diese bilden eine klare Mehrheit«, sagt er. Verweise auf notwendige politische Auseinandersetzungen um die Anerkennung der Rechte Homosexueller begegne man gerne mit dem Argument eines »russischen Sonderwegs«.

»Ich selbst bin ein Radikaler, ein Bürgerrechtler«, sagt Aleksej von sich. »Der Weg dahin aber war lang und schmerzhaft.« Aufgewachsen sei er in Sibirien, in Rostow am Don und in Liski im Woronezher Gebiet. »Eines Abends muss mich jemand aus dem Fenster eines nahe stehenden Hauses bei einer zärtlichen Umarmung mit meiner damaligen großen Liebe beobachtet haben.« Bei der Verabschiedung im Halbdunkeln sah Aleksej seinen Freund zum letzten Mal lebend. Das war im Jahr 2001. Es folgten erste öffentliche Kampagnen und der bislang erfolglose Versuch, über Abgeordnete die Anerkennung Homosexueller als sozialer Gruppe durchzusetzen, um die spezifischen Formen der Diskriminierung von Homosexuellen rechtlich verhandelbar zu machen. Drohungen blieben nicht aus, erzählt Aleksej, einschüchtern lassen habe er sich davon nicht. »Ich habe nichts zu verlieren, deshalb kann ich offen als Gay-Aktivist auftreten«, lautet sein nüchternes Fazit. »Meine Eltern starben als ich drei Jahre alt war, deshalb muss ich auch keine Rücksicht auf eventuelle Befindlichkeiten von Familienmitgliedern nehmen.«

Andere können sich in dieser Hinsicht weniger leisten. Roman ist Ende 20 und hatte das Pech, bei einer Protestabstimmung während der vorigen Dumawahlen im Dezember 2007 in seinem Wahllokal kurzzeitig verhaftet zu werden. Die Polizei nahm seine Personalien auf. »Bereits am nächsten Tag meldete sich meine Mutter telefonisch bei mir, sie war geschockt und bat mich eindringlich darum, meine öffentlichen Gay-Aktivitäten umgehend einzustellen. Andernfalls, so wurde ihr gedroht, verliere sie ihren Job in der Stadtverwaltung der Kreisstadt Bobrow im Süden Russlands.« Roman bringt sich zwar nach wie vor aktiv in die russische LGBT-Bewegung ein, seitdem allerdings nur noch anonym.

Im Jahr 2006 führte das russische Meinungsforschungsinstitut »Stiftung öffentliche Meinung« zum bislang letzten Mal eine Umfrage zur Einstellung der russischen Bevölkerung gegenüber sexuellen Minderheiten durch. Diese ergab, dass knapp die Hälfte der Befragten eine negative Einstellung zu Homosexuellen hat, während 40 Prozent eine neutrale Haltung angaben. Diese Ansicht teilten nach den Studienergebnissen überwiegend Frauen, jüngere und gebildete Menschen und Einwohner Moskaus oder anderer Großstädte. Der Schein des nach außen verhältnismäßig liberalen Moskau relativiert sich jedoch bei einem Blick auf eine andere Umfrage, welche im Rahmen eines Gemeinschafts­pro­jekts der Moskauer Helsinki-Gruppe und dem Netz­werk russischer LGBT-Organisationen entstand. Danach gaben insgesamt 90 Prozent der über 3 000 Befragten an, als Homosexuelle Diskriminierungen ausgesetzt gewesen zu sein. 27 Prozent waren Opfer physischer Gewalt gewesen, wobei sich in dieser Frage zwischen Moskau und St. Petersburg einerseits und der russischen Provinz andererseits nur der Unterschied feststellen ließ, dass das Risiko wiederholter Übergriffe in der Provinz etwas höher liegt. Ein Viertel der Befragten berichtete von Willkür oder Übergriffen seitens der Polizei. Hier steht Moskau eindeutig schlechter da als andere Städte, was sicherlich nicht zuletzt an der im Vergleich zu anderen Orten viel präsenteren schwul-lesbischen Szene liegt. Am Arbeitsplatz outenten sich weniger als ein Fünftel der Befragten. Gleichzeitig fühlen Homosexuelle sich in Moskau in geringerem Maße als in anderen Städten Russlands psychiychem Druck ausgesetzt.

Im Falle einer offensichtlichen oder unterschwelligen Diskriminierung ist allerdings guter Rat teuer, oder man beschränkt sich auf der ­Suche nach Unterstützung auf Freunde und den engsten Bekanntenkreis. Selbst in Moskau fehlt es an adäquaten Beratungsstellen. Projekte wie GayRussia sind eher auf politische und recht­liche Aufklärung und die Verbreitung von Informationen als auf die Beratung einzelner Menschen in Krisensituationen eingestellt. Landesweit sieht es nicht besser aus.

Im Oktober 2008 fand in Moskau eine Konferenz russischer Bürgerrechtsorganisationen statt, die sich für die Rechte von Lesben, Schwulen, Bisexuellen und Transgenders einsetzen. Immerhin 100 Personen aus 28 Städten im europäischen Teil und aus Sibirien waren anwesend. Viele Teilnehmer wussten vorher von der Existenz der anderen Organisationen nichts, es fehlt an einer internen Koordination, ohne die an eine Konsolidierung der LGBT-Bewegung nicht zu denken ist.

»Nach der Abschaffung des Artikels 121 des russischen Strafgesetzbuchs im Mai 1993 haben sich viele Homosexuelle lange der falschen Auffassung hingegeben, dass von nun an automatisch Schluss mit jeglicher Diskriminierung ist«, erzählt Aleksej, »dadurch ging eine Menge wertvoller Zeit verloren«, da ist er sicher. »Mit der Aufhebung der Strafbarkeit für freiwillige sexuelle Beziehungen unter Männern wurde zwar ein wichtiger Schritt getan, der aber war nur ein Anfang.« Dabei bezieht er sich beispielsweise auf die Psychiatrisierung lesbischer Frauen, die nach wie vor praktiziert wird, ohne dass dies in der Öffentlichkeit wahrgenommen wird. »Es mag sich dabei um seltene Einzelfälle handeln, aber jeder einzelne ist schließlich einer zu viel.« Wie der Fall der Moskauerin Ksenija, die zum Zeitpunkt ihrer Einlieferung im Jahr 2002 noch nicht volljährig war. Ihre Mutter hatte zufällig von der Liaison ihrer Tochter mit einer Freundin erfahren und beschlossen, diesem Lebenswandel ein abruptes Ende zu setzen.

Dafür, dass sich so etwas nicht wiederholt, engagiert sich die 23 Jahre alte Tatjana Liss mit ihrem Theaterprojekt. Ihre Wohnküche im achten Stock eines Hochhauses südlich des Moskauer Stadtzentrums ist eine Art Salon, in dem eine kreative und quirlige Atmosphäre herrscht. Für heute sind Proben angesetzt, aus dem Nebenzimmer dringt der Gesang professionell geschulter Frauenstimmen. Für Tatjana fing alles mit der großen Liebe an. Nach dem Schulabschluss wollte sie der Journalistin Anna Politkowskaja nacheifern, die für ihre mutige Berichterstattung über den Tschetschenien-Krieg und seine Folgen bekannt geworden war. »Die Auseinandersetzung mit dem Genre Kriegsjournalismus hat mich abgehärtet, zum Traumberuf wurde er nicht«, erzählt Tatjana. Sie suchte nach einer anderen Beschäftigung, begann sich für Kinderpsychologie zu interessieren und landete schließlich als Agentin im Theaterbusiness. »Zu meinen Klienten gehörte ein junger, talentierter Schauspieler, für den ich mehr als nur freundschaftliche Gefühle empfand. Irgendwann sagte er mir, er sei schwul.«

Als sie begriff, welcher Druck auf Schwulen lastet, die in einer homophoben Umgebung leben, begann sie mit ihrem Projekt »Art-Labor Liss-Group«, welches russischen Zuschauern eine offene Einstellung gegenüber Homosexuellen näher bringen und gegen verbreitete Vorurteile vorgehen will: durch die gezielte Wahl der Rollen und die Einbindung homosexueller Darsteller, aber ohne plumpe Propaganda. »Ich denke, die russischen Zuschauer sind dem Thema an sich gegenüber sehr offen«, ist sich Tatjana sicher. Ihre Verwandten sind es weniger. Ihnen zuliebe hat sie sich einen anderen Nachnamen zugelegt. »Um mich mache ich mir keine Sorgen, aber ich habe Angst um andere.«

Tatjana hat insgesamt 60 Schauspieler und Schauspielerinnen unter Vertrag. Von den männlichen Darstellern sind etwa 90 Prozent schwul. »Viele habe ich über eine intensive Suche in der Provinz gefunden, andere kommen von selbst.« Das hat seine Gründe. Tatjana und ihre rechte Hand, die Schauspielerin Anna, sorgen für eine Rundumbetreuung. Sie besorgen die für Moskau notwendigen Meldepapiere, wenn nötig eine Bleibe, bieten auf jede einzelne Person abgestimmtes individuelles Schauspieltraining und versuchen, ihren Nachwuchstalenten durch psychologische Unterstützung ihr Selbstvertrauen zurückzugeben. Dafür muss auch die Atmosphä­re im Kollektiv stimmen. »Die Heteros im Projekt waren anfangs erstaunt, als sie feststellten, wie offen hier Homosexualität ausgelebt wird, und kamen schnell damit gut klar«, erzählt sie.

Bislang arbeiteten sie an kleineren Aufführungen, im September findet die Premiere des dreistündigen Spektakels »Spiel in Versailles« statt. In der Öffentlichkeit sind sie bislang nicht auf Anfeindungen gestoßen, ob sich das mit der wachsenden Bekanntheit des Projekts ändern wird, ist noch offen. Tatjana tritt auch als Sponsorin von LGBT-Aktionen auf, ohne dies allerdings öffentlich zu betonen. Die Mittel dafür stammen hauptsächlich aus einer Erbschaft. Ganz eindeutig positioniert sie sich bei der »soften« Fraktion, deren Zurückhaltung Aleksej kritisiert. »Ich bin für die Pride«, sagt sie. Offen als Unterstützerin auftreten möchte sie allerdings nicht. »Nicht, weil ich Konflikte scheue, sondern weil ich sicher bin, aus meiner derzeitigen Position heraus viel mehr erreichen zu können.«

Ute Weinmann

http://jungle-world.com/artikel/2009/23/35191.html

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