Ungeliebte Nachbarn

In Russland sieht man von oben auf Zentralasien herab

Das Verhältnis zwischen dem russischen Zentrum und der zentralasiatischen Peripherie ist seit langem gespannt. Im Zeitalter der formalen Unabhängigkeit der ehemals „brüderlichen“ Sowjetrepubliken hat sich daran nur wenig geändert. Welche Bilder in Russland über Zentralasien vorherrschen, darüber gibt der russische Umgang mit zentralasiatischen MigrantInnen besonders gut Aufschluss.

Der Osten ist eine subtile Angelegenheit“ – dieser geflügelte Satz ist in Russland in aller Munde, wenn es um das russische Verhältnis zu den asiatischen Ex-sowjetischen Nachbarstaaten geht. Er zeugt einerseits von Kenntnis der Region und andererseits von deutlicher Distanz. Jener Satz stammt aus dem sowjetischen Kultfilm „Beloje solnce pustyni“ („Die weiße Sonne der Wüste“), der im Frühjahr 1970 das Kinopublikum im Sturm eroberte. Als seither regelmäßig im Fernsehen gezeigtes Kulturgut bildet er einen festen Bestandteil des kollektiven Gedächtnisses.

Der Film erzählt die Geschichte des demobilisierten Rotgardisten Suchow, der sich am Ende des nachrevolutionären Bürgerkrieges in den sandigen Weiten Zentralasiens auf dem Heimweg in sein russisches Dorf behaupten muss. Der Held begegnet dabei durchaus nicht nur negativ besetzten Personen, doch sind alle Figuren als etwas schräg gezeichnet. Und selbst wo Sympathien mit den Einheimischen entstehen, bleibt bei den ZuschauerInnen ein Gefühl von Befremdung zurück. Da begegnet Suchow beispielsweise drei weisen alten Männern, deren Kopfbedeckungen nach einer Explosion davon fliegen und die in ihrer stoischen Art nicht einmal mit der Wimper zucken. Der russische Held setzt sich mutig allerlei Gefahren aus und wünscht sich dabei nichts sehnlicher, als sobald wie möglich das Weite zu suchen.

Der Dealer ist immer Tadschike

Suchows unfreiwillige Abenteuer haben wie nichts Anderes die in Russland gängige Wahrnehmung von Zentralasien geprägt. Damit lässt sich der Film in seiner Bedeutung mit der Wirkung der klassischen russischen Literatur auf das bis heute präsente Bild vom Widerstandsgeist des Kaukasus gegen die russische Vormachtstellung vergleichen. Stereotype Bilder von der vormals sowjetischen Peripherie zeigen sich in der heutigen russischen Bevölkerung so präsent wie eh und je. Selten allerdings sind sie von eigenen konkreten Erfahrungen mit den Menschen bestimmt. Die gängigen Bilder von unterwürfigen und unzivilisierten Fremdkörpern werden im gesellschaftlichen Diskurs ständig reproduziert, ohne von irgendjemandem widerlegt zu werden.

Im Falle der Migrationsbewegungen aus Zentralasien nach Russland scheinen sie sich sogar in unmittelbarer Nähe und für jeden und jede sichtbar zu bestätigen und gewinnen dadurch an Aktualität. MigrantInnen aus Zentralasien tauchen in den Medien überwiegend im Zusammenhang mit sklavereiähnlichen Arbeitsverhältnissen, als Kriminelle, ÜberträgerInnen ansteckender Krankheiten oder Opfer rassistischer Gewaltverbrechen auf, von denen Menschen aus Zentralasien tatsächlich am meisten betroffen sind. Man sieht sie auf Baustellen und trifft sie als Straßenreiniger und HilfsarbeiterInnen an. Gehören sie der jüngeren Generation an, fehlt es ihnen nicht selten an Bildung und russischen Sprachkenntnissen, die über ein Minimum hinausreichen. Ende Juni äußerte sich der russische Kulturminister Alexander Awdejew besorgt über die sinkende Sprachkultur im Land und machte dafür in starkem Maße MigrantInnen verantwortlich. TadschikInnen geraten neben Roma zudem per se in Verdacht, in den Drogenhandel verwickelt zu sein.

In den vergangenen neun bis zehn Jahren, also seitdem sich die russische Wirtschaft von der Krise 1998 zu erholen begann, stieg die Migration zwischen Russland und den zentralasiatischen Republiken konstant an. In den vorangegangenen Jahren war in vielen Branchen, außer im Handel, ein Rückgang zu verzeichnen. In den letzten Jahren begaben sich bis zu 20 Prozent der tadschikischen Bevölkerung außerhalb des Landes auf die Suche nach Lohnarbeit. Je nach Schätzung trifft dies auf zwischen 700.000 und über einer Million Menschen zu. Ebenfalls rund 20 Prozent der kirgisischen Bevölkerung arbeiten im Ausland. Für Usbekistan sind es zwischen sieben und vierzehn Prozent, bei einer Einwohnerzahl von über 27 Millionen.

Einwanderung nach Wunsch

Nach Angaben des russischen Migrationsdienstes halten sich in Russland derzeit etwa sieben Millionen MigrantInnen auf, die über einen legalen Aufenthaltsstatus verfügen. Die Zahl derer, die nicht registriert sind und einer Lohnarbeit ohne entsprechende Genehmigung nachgehen, erreicht eine ähnliche Größenordnung, wobei die seit 2007 vereinfachte Anmeldeprozedur zu einer zunehmenden Legalisierung geführt hat. Gleichzeitig sollen jedes Jahr neu ausgehandelte Einreisequoten für ArbeitsmigrantInnen dafür sorgen, dass die Zuwanderung nach Russland das von der Regierung gewünschte Ausmaß nicht überschreitet.

In der Praxis bedeutet dies jedoch, dass die oftmals zu niedrig angesetzten Quoten in den wirtschaftlich attraktiveren Regionen Russlands nicht zu einem Zuzugsstopp führen, sondern zu irregulärer Zuwanderung. In Moskau beispielsweise waren die Quoten für das Jahr 2009 bereits zur Jahresmitte ausgeschöpft. Wer zu spät kommt, hat nur noch die Qual der Wahl, sich an eine der zahlreichen Agenturen zu wenden, die gegen Bezahlung entsprechende – gefälschte – Papiere ausstellen, oder aber sich gänzlich ohne irgendwelche Nachweise durchzuschlagen.

Etwa 80 Prozent der ausländischen Arbeitskräfte stammen aus jenen postsowjetischen Republiken, deren BürgerInnen für die Einreise nach Russland kein Visum benötigen. Darunter befinden sich auch die zentralasiatischen Staaten, mit Ausnahme von dem sich nach außen stark abgrenzenden Turkmenistan. Usbekische und tadschikische MigrantInnen führen neben UkrainerInnen die Liste an. Aber auch viele aus Kirgistan stammende Menschen suchen nach einem Einkommen in den benachbarten Ländern, während das an Rohstoffen reiche Kasachstan mit Russland um ArbeitsmigrantInnen konkurriert.

Der bis zum Ausbruch der gegenwärtigen Wirtschafts- und Finanzkrise rasant ansteigende russische Bauboom wäre ohne die meist schlecht bezahlte menschliche Hilfe aus den ehemaligen Sowjetrepubliken undenkbar gewesen. Im Jahr 2008 waren 41 Prozent der legal beschäftigten MigrantInnen im Bausektor tätig. Der Beitrag der ArbeitsmigrantInnen zum russischen Bruttosozialprodukt wird auf sechs bis acht Prozent geschätzt. In vielen Regionen, deren lokale Arbeitsmärkte nicht genügend russische Arbeitskräfte bereitstellen können, existiert schon lange eine deutliche Trennung der Beschäftigungssphären für Einheimische und Zugereiste. Lediglich Niedriglohnbranchen wie Handel oder Bau stehen den MigrantInnen offen, nur in Ausnahmefällen und bei hoher Qualifikation gelingt es ihnen, einen besser bezahlten Job zu ergattern.

Als eher abstrakte Größe im russischen Diskurs tauchen MigrantInnen zudem als demographische Masse für das Wohl Russlands auf. Die hohe Sterblichkeitsrate, die nach wie vor existente Abwanderung etwa nach Mitteleuropa und niedrige Geburtenzahlen bedingen einen rasanten Rückgang der russischen Bevölkerung – seit 1992 hat sie sich um 6,6 Millionen auf gegenwärtig knapp 142 Millionen reduziert. Dies lässt sich nur durch Zuwanderung kompensieren. Dabei spielen die zentralasiatischen Republiken auch deshalb eine Schlüsselrolle, weil deren Bevölkerungszahl seit dem Zerfall der Sowjetunion eine deutlich steigende Tendenz aufweist.

Aufgrund der regelmäßigen Transferzahlungen von MigrantInnen in ihre Herkunftsländer kommt Russland für die Ökonomie der Länder Zentralasiens eine enorme Bedeutung zu. In Tadschikistan reichen die Überweisungen aus dem Ausland an die Hälfte des gesamten Bruttoinlandsprodukts heran, in Kirgistan machen sie etwa 35 Prozent aus. Die Weltbank prognostiziert für das Jahr 2009 allerdings einen spürbaren Einbruch, da die Einkommen der ArbeitsmigrantInnen aus Mittelasien durch die Krise um bis zu 50 Prozent abfallen werden.

Obwohl Russland enorm von seinem Einfluss in Mittelasien profitiert, gestaltet sich das Verhältnis Moskaus zu den ehemaligen sozialistischen Bruderstaaten im Süden stiefmütterlich. Dass die erste Auslandsreise des im Jahr 2008 gewählten russischen Präsidenten Dmitrij Medwedjew nach Kasachstan führte und damit die Bedeutung der Region symbolisch hervortrat, ändert daran prinzipiell nichts. Russlands Zentralasienpolitik konzentriert sich hauptsächlich auf die Rohstoffgewinnung. Weiter reichende Entwicklungskonzepte sowie nötige Investitionen zur Verbesserung von Industrie und Infrastruktur sind hingegen nicht in Sicht. Die Unterstützung armer Nachbarn passt nicht in das Selbstverständnis des auf schnellen Gewinn bedachten russischen Establishments. Damit treffen Staatsmacht und Geschäftswelt in Russland auf weitreichendes Verständnis bei der Bevölkerung. Die gesamte Region wird aus Moskauer Perspektive chronisch unterbewertet. Das könnte sich insofern als fatale Fehleinschätzung erweisen, als die USA sich umso aktiver und mit Erfolg um eine Festigung ihrer Position in Zentralasien bemühen.

Ignoranz statt Verantwortung

Die russische Präsenz in Mittelasien dient zudem keiner kritischen Auseinandersetzung mit der Kolonialgeschichte, die als solche sogar häufig schlichtweg geleugnet wird.

Vor dem Hintergrund der Mär vom guten russischen Kolonialismus, der durch seinen positiven Impuls zur Staatenbildung in der vormals in feudale Gebilde unterteilten Region geführt hat, erscheint der erbittertere Widerstand gegen die russische Expansion aus heutiger Perspektive als nebensächliche Episode. Das zaristische Regime zielte darauf, lokale Feudalherren auf seine Seite zu ziehen und erzielte damit durchaus taktische Erfolge, was der populären These einer freiwilligen Unterordnung unter die Großmacht Russland eine berechtigte Grundlage zu verschaffen scheint. Gleichzeitig jedoch sahen sich die russischen Truppen mit zahlreichen Aufständischen konfrontiert, deren Unterwerfung sie auf brutalste Weise und mit allen zur Verfügung stehenden militärischen Mitteln betrieben. Nach jahrzehntelanger Präsenz Ende des 19. Jahrhunderts setzte sich schließlich die Erkenntnis durch, dass sich Russlands Positionen nur durch eine forcierte Umsiedlung russischer Bauern festigen lassen, die 1916 wiederum in einen Aufstand der kirgisischen Bevölkerung mündeten.

In der kollektiven Erinnerung wurde die blutige Epoche der Expansion und Machtsicherung unter dem Zaren allerdings durch die Zeit nach der Oktoberrevolution verdrängt. So dominieren in der russischen Selbstwahrnehmung die positiven Aspekte sowjetischer Aufbauhilfe zur Industrialisierung und der Bekämpfung des Analphabetismus. Man habe schließlich genug geleistet, lautet der Tenor, jetzt sei es an der Zeit, dass sich die ehemaligen Sowjetrepubliken ohne russische Unterstützung selbst behelfen.

Dass das sowjetische Erbe auch mit einer schweren Last verbunden ist, etwa katastrophale ökologische Folgen wie die unaufhaltsame Austrocknung des Aralsees, entzieht sich hingegen der russischen Wahrnehmung. Bei der Frage nach historischer Verantwortung weicht der subtile Ansatz einem durchweg ignoranten. Für Rotgardist Suchow dürfte das aus der Ferne keinen Unterschied machen.

Ute Weinmann

iz3w Nr. 314

https://www.iz3w.org/zeitschrift/ausgaben/314

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