Merkwürdige Fragen

Die russische Regierung preist ihren Umgang mit der Krise. Viele Arbeiter warten unterdessen vergeblich auf die Auszahlung ihres Lohns.

Die russischen Regierungspolitiker sind mit sich zufrieden. Nicht trotz, sondern gerade wegen der Wirtschaftskrise. Angeführt vom ersten Vizepremierminister Igor Schuwalow legte das Kabinett Mitte vergangener Woche dem Parlament seinen Bericht vor. Schuwalow lobte das Krisenmanagement des Kabinetts in höchsten Tönen. Das Schlimmste sei überstanden, und nach der Beseitigung aller negativen Folgen werde Russland im Jahr 2012 dank der wohlbedachten Vorgehensweise der Regierung sogar gestärkt aus der Krise hervorgehen.

Diesen Enthusiasmus wollten die Abgeordneten mit Ausnahme derjenigen der Partei Einiges Russland jedoch nicht teilen. Denn die Inflationsrate ist hoch, allein im August war ein Rückgang der Produktion um drei Prozent zu verzeichnen, es gibt Budgetprobleme in den Regionen, und die Kader- und Kreditpolitik der politischen Führung gilt vielen als fragwürdig. Harsche Kritik wehrte Schuwalow ganz in der Art eines Apparatschiks ab: »Sie stellen vielleicht merkwürdige Fragen!« An der Professionalität seines Kabinetts bestünden keine Zweifel, und die Jugend sei sogar erfreut über die Krise, die endlich etwas Bewegung ins Land bringe. Vor so viel Optimismus kapitulierte das Parlament und akzeptierte den Rechenschaftsbericht der Regierung.

Seit September 2008 gab die russische Regierung etwa 480 Milliarden Dollar für Maßnahmen gegen die Krise aus. Über die Hälfte floss über die Zentralbank direkt in die Wirtschaft, den Rest zahlte die Regierung unter anderem für Budgethilfen in den Regionen, Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen und die Unterstützung des militärisch-industriellen Komplexes. Die Fraktionsführerin der Partei Gerechtes Russland, Oksana Dmitrijewa, rechnete vor, dass der Großteil des Geldes für die Stützung des Finanzsystems und die »Rettung« der so genannten Oligarchen auf­gewendet wurde, während der Bevölkerung gerade mal 15 Prozent zugute kamen.

Ende August sorgte ein Bericht der Wirtschaftsexperten Wladislaw Inozemtsew und Nikita Kritschweskij für Wirbel. Die beiden Autoren gehen darin auf die strukturellen Folgen der rus­sischen Antikrisenpolitik ein, wobei im Zentrum ihrer Analyse die Wirtschaftskonglomerate der drei einflussreichsten russischen Oligarchen Oleg Deripaska, Roman Abramowitsch und Alischer Usmanow stehen.

Mit dem Beginn der Finanzkrise im Sommer 2008 begannen die russischen Großunternehmer, per Dividendenauszahlungen und Kapitalüberweisungen an nahestehende Firmen ihre Liquidität auf ein Minimum abzusenken. Daraufhin erhielten sie Zusagen für staatliche Unterstützung und Kredite. Die Autoren des Berichts stellen allerdings fest, dass sich seit dem Sommer 2009 die Abhängigkeitsverhältnisse umgekehrt haben. Nicht die Oligarchen seien die Bittsteller, sondern der Staat gerate aus Angst vor Massenprotesten in Abhängigkeit von den protegierten Wirtschaftsmagnaten. Die Proteste blieben bislang jedoch aus. Wo es zu offenen Protesten kam, wie beispielsweise in Pikaljowo nahe St. Petersburg, setzte sich Premierminister Wladimir Putin gekonnt als Retter in Szene. Oder aber der Staat ging, wie bei dem Autokonzern Avto VAZ, mit repressiven Maßnahmen gegen besonders unliebsame Personen vor, insbesondere Gewerkschafter.

Vor allem die Entwicklung der Autoindustrie gibt der russischen Führung eigentlich wenig Anlass für optimistische Prophezeiungen. In diesem Jahr standen die Fließbänder bei Russlands größtem Autokonzern Avto VAZ bereits dreimal still, und seit Juni wird kurzgearbeitet. Damit fällt der Lohn eines Fünftels der über 100 000 Beschäftigten unter das für die Region berechnete Existenzminimum von etwa 130 Euro. Die Reduktion der Belegschaft um 5 000 Personen bis Mitte Dezember ist bereits beschlossen. Ursprünglich war sogar von 36 000 Entlassungen die Rede. Der Automobilkonzern Gaz gab bekannt, man werde bis Jahresende 14 000 Mitarbeitern kündigen. Die Verkaufszahlen des Konzerns gingen seit Januar um 60 Prozent zurück, bei Avto VAZ waren es 44 Prozent.

Dass das österreichisch-kanadische Automobilzulieferunternehmen Magna und die russische Sberbank Opel übernommen haben, verschafft Russland neue Möglichkeiten zur Konsolidierung der maroden Autoindustrie. Neben Know-how fließen 170 Millionen Euro der von der Bundesregierung zur Sanierung von Opel bereitgestellten Staatshilfe als Investition nach St. Petersburg für die Produktion des Opel Astra. Die Summe soll sogar auf 600 Millionen aufgestockt werden. German Gref, der Vorstandsvorsitzende der Sberbank, will im Rahmen des Opel-Deals auch eine Zusammenarbeit mit Avto VAZ nicht ausschließen, schließlich gehöre der Konzern zu einem der größten Klienten der Sberbank. Ob die russischen Konsumenten die in sie gesetzten Hoffnungen erfüllen und ausreichend Autos von Opel kaufen werden, ist angesichts der derzeit rückläufigen Nachfrage zweifelhaft.

Russische Arbeiter werden zumeist schlecht, häufig aber auch verspätet oder gar nicht bezahlt. Lohnrückstände gab es in Russland bereits vor der Krise, nun ist die Zahl der Unternehmen, die Löhne und Gehälter nicht oder nur mit Verzögerung auszahlen, weiter gewachsen. Bislang werden gegen Unternehmensleitungen relativ selten Sanktionen verhängt. Der Generalstaatsanwalt Jurij Tschajka kündigte nun an, mit einer Gesetzesinitiative eine strafrechtliche Verfolgung auch der Eigentümer zu ermöglichen, die sich bislang relativ einfach ihrer Verantwortung entziehen können, etwa durch eine Bankrotterklärung.

Dienstleistungen für Firmen, die nach einem legalen Weg zur Absicherung gegen Gerichtsprozesse suchen, haben sich längst zu einem lukrativen Geschäftsbereich entwickelt. Schwierig mit der Schuldzuweisung wird es allerdings, wenn ein Unternehmen dem Staat gehört. Das nämlich erfordert nicht nur eine wesentlich kompliziertere Beweisführung, auch die Motivation der Richter, gegen staatliche Stellen vorzugehen, dürfte deutlich geringer sein. Sollte sich die Staatsanwaltschaft tatsächlich eingehender mit der ­Frage der Lohnrückstände befassen, ist wohl mit einer steigenden Anzahl an Bankrotterklärungen privater Unternehmen zu rechnen. Dies allerdings steht im Widerspruch zur den Gouverneuren gestellten Aufgabe, Geschäftsaufgaben nach Möglichkeit zu verhindern.

Der Wirtschaftsexperte Michail Deljagin zieht beim Vergleich mit den ökonomischen Folgen der Transformationskrise für die russische Bevölkerung zu Beginn der neunziger Jahre die Schlussfolgerung, dass die derzeitige Krise weitaus tiefer sei. Unter der Präsidentschaft von Boris Jelzin sei den Menschen als Alternative zum festen Einkommen eines Angestellten der Weg in den freien Handel geöffnet worden. Wer hingegen heute seinen Job verliere, sei kaum in der Lage, sich über Wasser zu halten. Als Grund nennt Deljagin den in den vergangenen Jahren gewachsenen Druck der korrupten Bürokratie auf Kleinunternehmer, der jegliche Initiative im Keim ersticke. Er empfiehlt stattdessen eine Förderung etwa durch eine zeitlich begrenzte Steuerbefreiung. Doch nicht einmal auf die Erleichterung ihrer prekären Existenz können arbeitslos gewordene Russen hoffen, denn die Krisenmanager interessieren sich vornehmlich für Großunternehmen und Oligarchen.

Ute Weinmann

http://jungle-world.com/artikel/2009/39/39463.html

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