Die Enttäuschung über das schlechte Abschneiden der Russen bei den Olympischen Winterspielen ist groß – ändern werden aber auch die diskutierten Maßnahmen in absehbarer Zeit nichts.
Eine unausgesprochene Sehnsucht nach den stalinistischen Herrschaftsmethoden vergangener Zeiten mag in so manchem russischem Sportfunktionär schlummern. Wjatscheslaw Bykow, seines Zeichens Trainer der russischen Eishockeynationalmannschaft, ließ seinem Frust nach der verheerenden Niederlage seines Teams in Vancouver im Spiel gegen Kanada hingegen ungehemmten Lauf: »Lasst uns die Mannschaft, also alle 35 Leute, vor dem versammelten Volk öffentlich auf dem Roten Platz hinrichten!« Zwar traf der Vorschlag erwartungsgemäß auf keinerlei Resonanz, dafür stehen seine Worte symbolisch für das Problem, das der russische Hochleistungssport derzeit hat.
Spätestens mit dem 7:3 zugunsten der Kanadier, die am Ende Gold holten, waren die olympischen Spiele 2010 für Russland gelaufen. Die traditionell starke russische Mannschaft war auf einen Sieg eingestellt, bot aber bereits zu Beginn des ersten Drittels ein einziges Trauerspiel. Bei den meisten anderen russischen Paradedisziplinen sah es im Unterschied zur vorangegangenen Winterolympiade in Turin, bei der acht Goldmedaillen an Russland gingen, nicht besser aus.
Im Eiskunstlauf gelang seinerzeit der Übergang von der sowjetischen Fließbandproduktion zahlreicher Olympiasieger zur weniger staatlich kontrollierten, dafür aber nur geringfügig finanzierten Sportförderung relativ problemlos. Doch mit der Silbermedaille von Jewgenij Pljuschtschenko beim Herrenwettbewerb, einer von zwei Medaillen der russischen Eiskunstläufer in Vancouver, blieb der in der Öffentlichkeit bereits als sicher gehandelte Triumph des Vorzeigesportlers aus. Alles andere als Gold kam einer Tragödie gleich.
Bei der Biathlonmannschaft haben vermutlich nicht zuletzt die vorangegangenen zahlreichen Dopingskandale für die Demoralisierung der ersten Riege gesorgt, wobei die schließlich doch erkämpften Medaillen zumindest einen Teil der russischen Ehre wiederherstellen konnten. Genau das stand nämlich bei der Generalprobe zum prestigereichsten Projekt des vormaligen russischen Präsidenten Wladimir Putin, Sotschi 2014, auf dem Spiel – die Ehre einer ganzen Nation. Nur wenige nüchterne Stimmen hinsichtlich der Medaillenchancen russischer Sportler waren vor den Olympischen Winterspielen in Vancouver zu vernehmen, und als das Spektakel dann endlich losging, stiegen die Erwartungen allerseits ins Unermessliche.
Auf die ersten Misserfolge reagierten die Sportfunktionäre mit Anzeichen leichter Panik, und die Sportkommentatoren begaben sich an Ort und Stelle auf die Suche nach fernsehtauglichen Erklärungen. Jede noch so eklatante Niederlage versuchten die Kommentatoren auf Ungerechtigkeiten gegenüber den russischen Sportlern zurückzuführen. Mal war das Eis ausgerechnet beim Start russischer Läufer »zu langsam«, mal der Schnee wegen zu hoher Außentemperaturen »zu wässrig«. Am Tag nach Pljuschtschenkos Niederlage erschien der Fernsehsportkorrespondent im Eiskunstlaufstadion ganz in Schwarz und rechtfertigte seine Kleiderwahl mit dem angeblich unfairen Ergebnis vom Vorabend, hinter dem mit Sicherheit eine Intrige stehe.
Dass ausgerechnet Südkorea beim Eisschnelllauf für Tempo sorgte, brachte einige Fernsehjournalisten völlig aus dem Konzept. Bei der 5 000-Meter-Distanz, die dem Südkoreaner Seung-hoon Lee Silber einbrachte, lobte der Kommentator während des gesamten Rennens dessen holländischen Konkurrenten über den grünen Klee. Seung-hoon Lee war ihm trotz seiner glänzenden Zeit kein Wort wert, nicht einmal sein Name kam ihm über die Lippen. Als jener dann kurz vor dem Finish leicht nachließ, triumphierte der Journalist mit den Worten: »Was auch immer, der Asiate muss geschlagen werden!« Seung-hoon Lee lag am Ende vorn, es brauchte aber noch ein paar Tage, bis die russischen Fernsehzuschauer seinen Namen aus dem Mund der Sportexperten zu hören bekamen.
Ebenfalls ganz unten in der Wertehierarchie der russischen Sportjournalisten befindet sich das Fraueneishockey. Beim Spiel Schweden gegen die Schweiz überboten sich die beiden männlichen Kommentatoren ganz im Stil von Beavis and Butthead in abwertenden Verniedlichungen: Die Ersatzbank wird zum »Bänkchen«, Frauen zu »Mädelchen«, und das höchste Lob lautete: »Oj, sie haben ja wie richtige Männer gespielt … Ich meine, mit Verstand …« . Es fällt nicht schwer, sich vorzustellen, dass das Fraueneishockey in Russland weit entfernt von gesellschaftlicher Anerkennung ist. Womöglich ändert sich das ja jetzt, da die Männer in Vancouver versagt haben.
Im sogenannten Russischen Haus in Vancouver floss trotz der anfänglich schlechten Stimmung der Wodka in Strömen. Kostenlos, die Russen sind schließlich großzügig. Hinz und Kunz waren auf Staatskosten nach Vancouver gereist, um den zukünftigen Medaillengewinnern moralischen Beistand zu leisten. Sportfunktionäre, Politiker, Schauspieler und Showstars taten ihr Bestes, um ihrer Mission gerecht zu werden. Geholfen hat es wenig, zumal der erwartete Stargast ausblieb. Unzufrieden mit dem 11. Platz im Medaillenspiegel hatte der russische Präsident Dmitrij Medwedjew seinen geplanten Besuch der Olympischen Winterspiele erst aufgeschoben und dann abgesagt. Er kündigte umgehend die Entlassung verantwortlicher Sportkader an und sprach sich für eine grundlegende Veränderung der Vorbereitung olympiafähiger Sportler aus. Bislang nahm nur der Präsident des Russischen Olympischen Komitees, Leonid Tjagatschew, seinen Hut, aber andere werden ihm sicher folgen.
Auch wenn Tjagatschew schon lange bei vielen unbeliebt war, ändern wird sich durch seinen Abschied kaum etwas. Personelle Veränderungen bringen wenig, da die Probleme im System liegen, meinen ehemalige Spitzensportler, die unter Putin in die Politik gegangen sind. »Für den Wintersport gibt es in Russland nur eines – den Winter«, lautet das sarkastische Fazit anderer.
Tatsächlich haben sich die Bedingungen für den Hochleistungs-Wintersport in den vergangenen Jahren verschlechtert. Trotz höherer staatlicher Finanzierung fehlt es an Geld: ob für die Sportler, Masseure, Ärzte oder Medikamente, von der veralteten oder, wie in einigen neueren Sportarten, praktisch nicht vorhandenen Infrastruktur gar nicht zu reden. Private Sponsoren machen sich rar und die Sportverbände sparen, wo es geht, am liebsten bei den Honoraren für qualifiziertes Personal.
Die russische Eiskunstlaufelite trainiert mittlerweile vorzugsweise im Ausland, hauptsächlich in den USA. Dort arbeitet für Dollar statt Rubel auch eine ganze Reihe russischer Spitzentrainer, die Läufern und Läuferinnen aus Kanada, den USA und Japan zum Sieg verholfen haben. Der Eisschnellläufer und zweifache Medaillengewinner von Vancouver, Iwan Skobrew, der Jewgenij Pljuschtschenko in Russland als Fernsehliebling abgelöst hat, trainierte zuletzt in Italien. Die »perspektivlose« russische Biathlon-Läuferin Anastasija Kuzmina wollte sich nicht mehr gängeln lassen und holte Gold für die Slowakei.
Jetzt darf man gespannt sein, welche Alternative zur Erschießung der Schuldigen auf dem Roten Platz sich die russische Führung einfallen lässt, um in Sotschi zu siegen wie Kanada in Vancouver.
Ute Weinmann