Die Angst vor Arbeitslosigkeit verunsichert die russischen Lohnabhängigen. Doch nun wächst die Zahl der Protestaktionen.
Die Nachricht kam pünktlich zu den Feierlichkeiten. In Russland wird am 9. Mai der »Tag des Sieges über den Faschismus« begangen, und in der Nacht zuvor war es in dem im Verwaltungsbezirk Kemerowo gelegenen größten russischen Kohlebergwerk Raspadskaja zu mindestens zwei Explosionen gekommen. 66 Menschen, sowohl Bergarbeiter als auch Mitglieder von Rettungseinheiten, kamen bei dem Grubenunglück in Sibirien ums Leben. Von 24 Bergleuten fehlt noch jede Spur.
Die Stadt Meschduretschensk hat etwa 100 000 Einwohner, jeder dritte Beschäftigte arbeitet unter Tage. Der Anteil von Raspadskaja am landesweiten Kohlekoksabbau betrug etwa zehn Prozent. Damit ist nun vorerst Schluss. Nach bisherigen Erkenntnissen beläuft sich der Schaden auf bis zu 150 Millionen Euro, offen bleibt außerdem, wann der Betrieb wieder aufgenommen werden kann, so dass Experten bereits mit Engpässen bei der Kohleversorgung rechnen. Es herrscht nicht einmal Klarheit über die Ursache der Explosionen. Dennoch war sich der einige Tage nach der Katastrophe angereiste Premierminister Wladimir Putin ganz sicher, dass der »Faktor Mensch« nicht verantwortlich sei.
Doch daran gibt es Zweifel. Offiziell wurden zwei Explosionen gemeldet, Bergleute berichten, zwei weitere bemerkt zu haben. Ein Bergmann teilte der Tageszeitung Moskowski Komsomolez mit, die Werksleitung habe unmittelbar nach dem Unglück ein Verbot ausgesprochen, mit Journalisten in Kontakt zu treten. Bei den Kollegen werde auch über einen Terroranschlag spekuliert.
Anlass für diesen Verdacht mag neben der restriktiven Informationspolitik auch der Umstand geben, dass der Unglücksschacht, an dem der Oligarch Roman Abramowitsch Anteile hält, seit Jahren als vorbildlich gesichert gilt. Die Unfälle wurden nach umfangreichen Modernisierungen seltener, wenngleich Manipulationen, beispielsweise bei den Messungen der Methankonzentration, wohl auch in dieser Mine zum Arbeitsalltag gehören dürften. Denn die Werksleitungen stehen unter dem Zwang, die Produktion zu erhöhen, und setzen ihrerseits die Bergarbeiter unter Druck. Aus vielen Bergwerken ist bekannt, dass wegen stetiger Anhebungen des Plansolls Sicherheitsvorschriften missachtet und auch die Kumpel unter Androhung eklatanter Lohneinbußen dazu angehalten werden, diese zu ignorieren.
Jedenfalls versammelten sich am 14. Mai bis zu 3 000 Menschen in Meschduretschensk zu einer spontanen Protestkundgebung, um die Beibehaltung der Lohnzahlungen während des Stillstandes und die Erhöhung der Grundlöhne zu fordern. Nachdem mehrere Dutzend angeblich betrunkener junger Männer spontan ihren Protest auf die naheliegenden Eisenbahngleise verlegt hatte, setzte die Milizsondereinheit Omon der Versammlung ein schnelles Ende und nahm 28 Bergleute fest. Daraufhin tauchte im Internet ein Aufruf auf, der vom Bund der Bewohner der Region Kusbass unterzeichnet wurde. Darin heißt es: »Wo die einen an uns Milliarden Dollar verdienen, wovon sie sich Villen und Paläste bauen, sterben wir zu Hunderten in den Schächten.« Weiter fordert der Bund, dessen Legitimität angesichts einer fehlenden offiziellen Registrierung von den Behörden angezweifelt wird, Lohnerhöhnungen bei den rentablen Bergwerken um das Dreifache, den Abzug der nach Meschduretschensk angereisten polizeilichen Sondereinheiten und Verhandlungen der Bergarbeiter mit den lokalen Staatsvertretern. Bei Nichterfüllung bis zum 21. Mai droht der Bund mit einer Protestwelle in der gesamten Region.
Als die Folgen der Wirtschaftskrise im Herbst 2008 spürbar wurden, nahmen Protestaktivitäten landesweit zunächst ab. Entlassungen, Lohnausstände und ungewisse Zukunftssaussichten hatten weite Teile der russischen Bevölkerung zunächst einmal verunsichert, und die Angst vor Arbeitslosigkeit ist angesichts der lächerlich geringen Sozialleistungen groß. Etwa die Hälfte der offiziell über zwei Millionen Erwerbslosen muss mit dem Mindestsatz von umgerechnet 22 Euro pro Monat auskommen, maximal werden knapp 130 Euro gezahlt.
Erst mit den zunehmend optimistischeren Meldungen über die schrittweise Überwindung der Krise nahm die Bereitschaft der russischen Bevölkerung zum Straßenprotest wieder zu. Mitte April stellte das Innenministerium fest, dass die Anzahl öffentlicher Protestkundgebungen im ersten Quartal dieses Jahres viermal so hoch sei wie im gleichen Zeitraum des Vorjahres. Zu den etwa 5 000 legalen Kundgebungen kommen noch etliche ohne staatliche Genehmigung veranstaltete Aktionen, insbesondere in Moskau, in den Gebieten um Tscheljabinsk im Ural und Samara an der Wolga und in der häufig von Terroranschlägen betroffenen Kaukasus-Republik Dagestan.
Auch in den sogenannten Monostädten, die rund um einstige Staatsbetriebe entstanden waren und nun häufig kurz vor dem völligen Niedergang stehen, ohne annehmbare Alternativen für die lokale Bevölkerung anzubieten, regt sich Unzufriedenheit. Der erste stellvertretende Innenminister Michail Suchodolskij nennt als Grund für die zunehmende Proteststimmung die sinkende Zahl an Arbeitsplätzen und Lohnrückstände, aber auch die rasant ansteigenden Kommunalabgaben. Er vermutet, dass diese Tendenz sich in absehbarer Zeit eher noch verstärken wird.
Beispiele dafür lassen sich im ganzen Land finden. So hatten Mitte Mai Mitarbeiter von Stadtreinigungsunternehmen in der Stadt Rybinsk, die etwa 350 Kilometer nordöstlich von Moskau an der Wolga liegt, zu Warnstreiks aufgerufen, weil die Bezahlung für ihre Dienste seit drei Monaten aussteht. Bislang allerdings blieben die Proteste ohne Resultat. Die Privatisierung vormals kommunaler Dienstleistungen erleichtert die Lohnhinterziehung. Im Baugewerbe und in anderen Sparten halten Unternehmer die Lohnzahlungen oftmals sogar über mehrere Jahre zurück. Selbst im konservativen Wissenschaftsbetrieb stehen Protestaktionen wegen der chronischen Unterfinanzierung und weiterer Kürzungen staatlicher Zuwendungen an.
Normalerweise richten sich solche Forderungen allein gegen die lokalen staatlichen Repräsentanten. Neue Maßstäbe setzte indes Ende Januar in Kaliningrad eine der größten oppositionellen Aktionen der vergangenen Jahre. Dort spitzte sich der Konflikt zwischen dem von der Regierung eingesetzten Gouverneur Georgij Boos und dem lokalen Establishment sowie diversen Bürgerinitiativen zu. Etwa 10 000 Menschen demonstrierten, die Teilnehmer der ursprünglich gegen die Anhebung der KFZ-Steuer gerichteten Protestkundgebung forderten den Rücktritt von Wladimir Putin und die Wiedereinführung der im Jahr 2004 abgeschafften Gouverneurswahlen.
Die Regierung beäugt die Gesamtentwicklung einerseits besorgt, andererseits folgt die Einschätzung der Gefahrenlage einer klaren und unumstößlichen Logik. Proteste gelten zunächst als unvermeidliches Ärgernis. Zu einer Gefahr werden sie, wenn offene Kritik am Herrscherduo Putin-Medwedjew formuliert oder gar wie im Fall Kaliningrad die Forderung nach der Absetzung des Premierministers laut werden. Das Problem der russischen Protestbewegungen hingegen ist nicht allein die noch immer zahlenmäßig geringe Beteiligung, sondern vor allem, dass es an Kontrollinstanzen und an schlagkräftigen Interessenverbänden fehlt, die dem Walten der Staatsmacht Einhalt gebieten könnten.
Ute Weinmann