Die Angst vor Veränderung sitzt tief

Böse Zungen behaupten, dass Wahlen in Russland stets kurz vor mehrtägigen arbeitsfreien Feiertagen angesetzt werden, damit eventuell auftretende Unmutsäußerungen in der Bevölkerung durch eine verdiente Erholungspause und Alkoholgenuss schnell im Sande verlaufen. Ob dieses Kalkül, sollte sich dahinter ein reeller Gehalt verbergen, nach den langen Neujahrsfeiertagen hinsichtlich der im Dezember unverhofft erwachten Protestbereitschaft für freie und faire Wahlen aufgeht, wird sich spätestens am 4. Februar zeigen. Dann nämlich, also genau zwei Monate nach den manipulierten Dumawahlen und einen Monat vor dem erwarteten Comeback von Premierminister Wladimir Putin als russischer Präsident, will die Оpposition erneut mit einer Großveranstaltung auf ihre Forderungen nach Neuwahlen aufmerksam machen.

Nach mehreren Protestkundgebungen in Moskau und vielen anderen Städten Russlands, die zuletzt allein in der Hauptstadt über 70 000 Menschen mobilisiert hatten, während in den Regionen die Teilnehmerzahlen tendenziell eher rückläufig waren, knüpfen die Organisatoren dieses Mal bewusst an die Zeit der Perestroika vor über 20 Jahren an. Am 4. Februar 1990 nämlich zogen mehrere Hunderttausend Menschen durch Moskaus Straßen, was die Abschaffung des Artikels sechs der sowjetischen Verfassung nach sich zog, der das Machtmonopol der Kommunistischen Partei festschrieb.

Symbolträchtig ist dieser Schritt allemal, die Aussichten auf schnelle und durchgreifende Erfolge erscheinen indes eher zweifelhaft. Zwar drängt sich ein Vergleich mit der Perestroika auf angesichts der Massenmobilisierung nach Bekanntwerden von zahlreichen Manipulationen der jüngsten Parlamentswahlen. Wie erwartet trug die Kremlpartei „Einiges Russland“ mit knapp der Hälfte der Wählerstimmen den Sieg davon. Doch neben einigen Parallelen fallen gravierende Unterschiede ins Gewicht. Die Perestroika zog sich über Jahre hin und es brauchte einen mehrjährigen Vorlauf, bis es zu einschneidenden Veränderungen kam.

Die heutige Protestbewegung steht, anders als damals, unter ungeheurem Zeit- und Verantwortungsdruck, denn der nächste Wahltermin steht bereits Anfang März an. Eine der taktischen Aufgaben für die kommenden Wochen besteht darin, unter dem Motto „keine Stimme für Putin“ die Wahlbeobachtung bei den anstehenden Präsidentschaftswahlen zu intensivieren. Zwar wird sich eine erneute Präsidentschaft von Wladimir Putin, dieses Mal für sechs statt vier Jahre, kaum verhindern lassen. Aber sollte diese durch massenhafte Wahlmanipulationen wie im Dezember möglich gemacht werden, kann die Opposition zumindest erneut mit einem Zulauf jener rechnen, die sich im vergangenen Jahrzehnt in politischer Zurückhaltung geübt haben.

Auch dürfte die Wahlbeteiligung der kritisch eingestellten Bevölkerung ansteigen. Noch vor den Dumawahlen kamen die zahlreichen diversen Handlungsaufrufe, wie und ob man überhaupt von seinem Stimmrecht Gebrauch machen sollte, eher einer Art Salongespräch gleich, selbst wenn die Aufrufe öffentlich im Radio oder der Presse geäußert wurden. Denn es schien offensichtlich, dass von dem eigenen Wahlverhalten ohnehin nichts abhängt, was das Gefühl von Beliebigkeit verstärkte, anstatt eine bewusste politische Entscheidung zu treffen. Im Nachhinein sahen sich allerdings jene bestätigt, die sich gegen einen Wahlboykott und für eine aktive Opposition gegen die Regierungspartei entschieden. Und sei es nur durch die Teilnahme an einem formalen Akt.

Dass Wladimir Putin und der amtierende Präsident Dmitrij Medwedjew auf dem Parteitag des „Einigen Russland“ Ende September ihren Ämtertausch ankündigten, der durch die Präsidentschaftswahl im März im Nachhinein durch die Wähler abgesegnet werden soll, nehmen Putin viele übel. Seine Popularität sank bei Umfragen erheblich, dennoch gilt er immer noch als der Politiker Nummer Eins in Russland, was aber nicht zuletzt die seit vielen Jahren suggerierte Alternativlosigkeit zurückzuführen ist. Die Angst vor einschneidenden politischen Veränderungen sitzt tief im Bewusstsein eines großen Teils der russischen Gesellschaft, gleichzeitig wünschen sich andere genau dies herbei.

In Ermangelung eines eigenen Präsidentschaftskandidaten, der sich der Unterstützung weiter Teile der Protestbewegung sicher sein kann, muss die Opposition nun eine alternative Handlungsstrategie entwickeln. Die Frist für die Aufstellung von Kandidaten ist bereits abgelaufen, eine Wiederholung des Perestroika-Szenarios, das Präsident Boris Jelzin als vermeintlichen Demokratieverfechter hervorbrachte und mit ihm einige der heutigen wenig geschätzten Oppositionsfiguren wie Boris Nemtsow, wird damit unrealistisch. Und das ist vielleicht auch besser so. Der Multimilliardär Michail Prochorow, dessen Unternehmerperspektive so manchem Kremlgegner attraktiv erscheint, wartet gerne mit Vorschlägen auf wie der Erweiterung der Arbeitswoche auf 60 Stunden. Der Politveteran Grigorij Jawlinskij von Jabloko besaß noch nie eine wirkliche Chance auf Unterstützung außerhalb der demokratisch gesinnten russischen Intelligenz sowjetischer Prägung. Und der Kommunist Gennadij Zjuganow, dessen Partei nach wie vor wohl über die größte Basis mit Ausnahme kremlnaher Organisationen verfügt, verlässt sich lieber auf seine eigenen Kräfte, als ein festes Bündnis mit dem bunt zusammen gewürfelten Organisationskomitee für freie und faire Wahlen einzugehen.

Anders Präsidentschaftskandidat Sergej Mironow von der Partei „Gerechtes Russland“. Bis Mai 2011 gehörte er als Sprecher des russischen Föderationsrates, dem Oberhaus des Parlaments, zum Establishment. Sein nicht ganz freiwilliges Ausscheiden verhalf ihm schließlich zu einer Karriere als Oppositionspolitiker, seine gemässigte Linkspartei ist als drittstärkste Fraktion in der Duma vertreten und bestimmte in seiner Heimatstadt St. Petersburg eine der letzten Großkundgebungen gegen Wahlmanipulationen. Mironow verspricht im Falle seiner Präsidentschaft Parlamentsneuwahlen noch vor Jahresende, was ihm zu zusätzlichen Stimmen verhelfen dürfte. Allerdings setzt er für diesen hypothetischen Schritt eine Veränderung des Wahlrechts voraus, wie dies bei einer Sitzverteilung zugunsten des „Einigen Russland“ vonstatten gehen soll, kommentiert er nicht.

Aleksej Kudrin, im vergangenen Jahr als langjähriger Finanzminister aus dem Kabinett von Wladimir Putin ausgeschieden, brachte sich als Vermittler zwischen Protestbewegung und Kreml ins Gespräch. Kudrin steht für einen langsamen, institutionellen und vorsichtigen Wandel unter Putin als Präsident. Nach dessen zu erwartendem Wahlsieg im März könnte Kudrin durchaus Gehör finden, derzeit jedoch erntet er zuweilen heftige Kritik. Im Organisationskomitee der Proteste herrscht die Meinung vor, dass ein weitreichender Wandel nur von radikaleren Forderungen eingeleitet werden könne. Zur Stärkung des Parlaments ist ein Verfassungsreferendum im Gespräch, was allerdings nach der geltenden Rechtslage praktisch undurchführbar ist.

Hier beisst sich die Katze in den Schwanz. Seit Beginn der Proteste ertönen ständig Aufrufe nach Gewaltfreiheit und dem Bedürfnis auf friedliche Weise ein autoritäres Herrschaftssystem zu demontieren. Gleichzeitig herrscht nach wie vor Irritation darüber, welche Instrumente hierbei zur Verfügung stehen, außer Kundgebungen und den bereits praktizierten Wahlbeobachtungen. Die veränderte politische Lage seit dem Dezember, die sich bislang neben mündlichen Zugeständnissen von Präsident Medwedjew und Ämterwechseln erprobter Kremlkader hauptsächlich in einem schwer fassbaren gesellschaftlichen Stimmungswandel manifestiert, bringt weniger Gewissheiten, als dass sie Fragen aufwirft. Deutlich zu sehen ist, dass selbst die aktiven Kundgebungsteilnehmer nicht auf klassische Politikvertreter setzen und dem Erneuerungspotenzial des russischen Regierungswesens eher skeptisch gegenüber stehen. Die Proteste sind auch Ausdruck einer allgemeinen Unzufriedenheit, ständiger Gängeleien und einer fast grenzenlos erscheinenden Willkür von Behörden und Polizei ausgesetzt zu sein. Dass soll sich ändern, aber wie?

Kaum einer weiss den neugewonnenen politischen Spielraum zu nutzen, denn das eigentliche Dilemma besteht im Verlust eines politischen Handlungsbewusstseins. Unter Putin galt als Freak, wer ohne direkt vom Establishment zu profitieren politische Ansprüche stellte. Selbst während des kurzen Vorlaufs der für das heutige Russland phänomenalen Massenproteste fiel auf, dass sogar diejenigen, die zu einer Teilnahme entschlossen waren oder gar Transparente oder Flashmobs vorbereiteten, Diskussionen über den politischen Gehalt ihres Tuns regelrecht aus dem Weg gingen. Auch im Organisationskomitee, oder besser gesagt, in den Komitees, denn an der Vorbereitung der Kundgebung arbeiteten parallel mehrere Bündnisse, führt die langjährige politische Entsagung bisweilen dazu, dass inhaltliche Debatten nur schwer in Gang kommen oder erst gar nicht erwünscht sind. So wird im liberalen Lager, aber auch von einigen Linken bisweilen die enge Kooperation mit führenden Vertretern der nationalistischen Rechten dadurch begründet, dass ein Auseinandergehen zu einer Schwächung der Bewegung führen könnte. Es gilt als neue Qualität, dass Liberale, Rechte, Linke und politisch vermeintlich indifferente Kulturarbeiter an einem Tisch sitzen. Gegenstimmen sind leider rar.

Es wäre sehr zu wünschen, dass als ein Ergebnis der derzeitigen Protestwelle ein Prozess in Gang kommt, der dazu führt, den Politikbegriff in Russland mit neuem Sinn zu erfüllen. Dazu braucht es jedoch mehr, als die bislang gegründeten Bündnisstrukturen, Wählervereinigungen oder aus wenigen Experten bestehende alternative Parlamente. Derartige Vorschläge jedenfalls kursieren zuhauf. Mindestens sollten sich neu zu gründende und bereits bestehende Strukturen, von Bürgerinitiativen bis hin zu Gewerkschaften, als politisches Subjekt begreifen und über die Forderungen nach Neuwahlen und einer Stärkung des Parlaments hinaus ihre Themen stark machen. Bislang ist dieser Schritt nicht vollzogen und es bleibt abzuwarten, wie sich die Dinge weiter entwickeln werden.

Ute Weinmann

ak Nr. 568

 

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