Väterchen Frust hat viel zu tun

Nach den Wahlen in Russland gehen die Proteste gegen Wladimir Putin weiter. Eine Revolution scheint nicht in Sicht, die Opposition könnte sich aber parteiübergreifend mit streikenden Arbeiterinnen und Arbeitern verbinden.

»Wir haben in einem offenen und ehrlichen Kampf gewonnen.« Bei seiner Siegesrede vor mehreren Zehntausend Menschen, die sich am Sonntag nach Schließung der Wahllokale vor den Kremlmauern eingefunden hatten, bescheinigte Wladimir Putin, der alte und neue Präsident Russlands, seinen Wählerinnen und Wählern »politische Reife, Selbstständigkeit und Unabhängigkeit«. Sie hätten den Provokationen jener standgehalten, deren einziges Ziel darin bestehe, die russische Staatlichkeit zu untergraben und das Machtmonopol für sich zu beanspruchen. Bereits im Wahlkampf griff Putin zu Metaphern, die an Weltuntergangszenarien erinnerten. Putin wählen oder sterben, lautete die unzweideutige Botschaft. In Moskau mögen vergleichsweise wenige Menschen glauben, das große Vaterland sei von Feinden umzingelt, doch finden sich auch hier genügend, die alles Übel in Russland auf den Einfluss des US-amerikanischen Außenministeriums zurückführen.

Die Ergebnisse der Präsidentschaftswahlen vom 4. März sichern Putin die Staatsmacht nun für weitere sechs Jahre. Mit einer knappen Zweidrittelmehrheit erhält der »Führer der Nation« seinen bereits über acht Jahre bekleideten Posten als Präsident zurück. Der Kommunist Gennadij Sjuganow, der als »ewiger Zweite« wieder unterlag, erreichte mit 17 Prozent der Stimmen ein eher schwaches Resultat, gefolgt von dem erstmals angetretenen Multimilliardär Michail Prochorow mit knapp acht Prozent. Wladimir Schirinowski erhielt sechs Prozent der Stimmen, das Schlusslicht bildete Sergej Mironow mit weniger als vier Prozent. Überrascht haben dürfte die Stimmenverteilung kaum jemanden, auch wenn sich der diesjährige Wahlkampf von vorangegangenen dadurch unterschied, dass eine Stichwahl zumindest rein theoretisch nicht ausgeschlossen werden konnte.

Von einem offenen und fairen Wahlverfahren kann nicht gesprochen werden. Internationale Wahlbeobachterinnen und -beobachter der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) stellten bei der Stimmauszählung in jedem dritten Wahllokal Regelverstöße fest. Russische Wahlbeobachtungsorganisationen stellten Tausende von Beobachterinnen und Beobachtern, viele Medien entsandten ebenfalls Vertreterinnen und Vertreter in Wahllokale. Die Organisation Golos (Stimme) kommt zum dem Fazit, dass Putin ohne Wahlbetrug kaum die absolute Mehrheit erreicht hätte. In Moskau und Umgebung berichteten viele Wahlbeobachterinnen und -beobachter nach der Erstauszählung, den ihnen vorgelegten Wahlprotokollen zufolge hätte Putin zwar die Führungsposition eingenommen, doch läge sein Stimmanteil immer unter 50 Prozent. Teilweise wurden Beobachterinnen und Beobachter von der Polizei entfernt, sonst liefen die Wahlen eher friedlich ab.

Beispiele für Unstimmigkeiten beim Wahlverfahren finden sich im Internet zuhauf. Auf einem Video wurde festgehalten, wie Soldaten in Chabarowsk außerhalb der Wahlkabinen und unter Aufsicht ihrer Vorgesetzten ihre Stimmzettel abgeben. In der russischen Kaukasusrepublik Dagestan ließen sich die Wahlhelferinnen und -helfer bei ihrem Einwurf zusätzlicher Wahlzettel von den im Wahllokal aufgestellten Webkameras keineswegs irritieren. Aus Magadan berichteten Blogger, dass die »Live-Übertragung« per Kamera selbst nach Sonnenuntergang Bilder bei Tageslicht zeigte.

Ilja Ponomarjow, ein Abgeordneter der Partei Gerechtes Russland, sprach davon, dass bei den Präsidentschaftswahlen im Vergleich zu den Duma-Wahlen weit weniger gefälschte Wahlzettel eingeworfen worden seien. Stattdessen strengten sich Putins Anhängerinnen und Anhänger an, eine vollständige Mobilisierung Wahlberechtigter zu erhalten, von gerade Volljährigen bis zu uralten Omas. Am Wahltag rund um die Uhr Beschäftigte konnten kurzfristig einen schriftlichen Antrag auf einen Wahlschein stellen, um ihre Stimme nicht am Wohnort abgeben zu müssen. Angestellte, die sich in einem besonderen Abhängigkeitsverhältnis zu staatlichen Strukturen befinden, mussten ihren Antrag nicht einmal selbst stellen.

5. März, Puschkinplatz. Die Polizei nahm etwa 250 Demonstrantinnen und Demonstranten fest. Der Mann im gelben Schal hatte sich am Vortag als Wahlbeobachter betätigt und dabei offensichtlich so viel Inspiration erhalten, dass er weiter beobachten wollte — nun in einem der Polizeibusse. Er drängte darauf festgenommen zu werden — ohne Erfolg. Foto: Ute Weinmann

Auch wenn sich Putin alle Mühe gegeben hat, als Triumphator in sein altes Amt zurückzukehren, wirklich überzeugen kann sein Sieg nicht. Die seit Anfang Dezember nicht abreißenden Massendemonstrationen für faire Wahlen dürften ihm zugesetzt haben. Zumindest wollte sich die russische Regierung dieses Mal nicht allein auf Putins allgegenwärtige Präsenz in den staatstreuen Medien verlassen. Als Reaktion auf die oppositionellen Großkundgebungen ließ die Regierung im Februar selbst Zehntausende Anhängerinnen und Anhänger zu öffentlichen Veranstaltungen in Moskau antreten. Dabei war nicht wie sonst die Putin-Jugend gefragt, sondern der gestandene Arbeiter. Zum »Tag des Verteidigers des Vaterlandes« am 23. Februar kam gar ein Sonderzug aus dem Ural. Aus näherliegenden Städten reisten ganze Betriebsdelegationen mit dem Bus an, um sich zum Stelldichein im über 100 000 Plätze fassenden Luschniki-Stadion einzufinden.

Aber auch die Opposition kann trotz einiger aufsehenerregender Massenaktionen, wie der Menschenkette am 26. Februar um das Moskauer Stadtzentrum, bislang keine überzeugenden Erfolge vorweisen. Liberale Intellektuelle haben vorzugsweise für Michail Prochorow gestimmt, die meisten nicht unbedingt aus Überzeugung, sondern mangels einer Alternative. Weder die parlamentarische noch die außerparlamentarische Opposition verfügt über populäre und glaubhafte Führungsfiguren. Der Antikorruptionspolitiker Aleksej Nawalnyj, dem eine Kandidatur nahegelegt wurde, hatte dankend abgelehnt. Womöglich wollte sich Nawalnyj keine absehbare Niederlage einhandeln. Sein Bekanntheitsgrad selbst unter Protestierenden und seine Bedeutung für die Oppositionsbewegung werden stets überschätzt. Überhaupt spielen die Anführer der außerparlamentarischen Opposition derzeit bestenfalls eine Rolle als Ideengeber, hauptsächlich beschränkt sie sich jedoch auf die Bereitstellung der nötigen Logistik für legale Großdemonstrationen.

Insofern gehen auch die von Putins Anhängerinnen und Anhängern stets heraufbeschworenen Bedrohungsszenarien einer »orangefarbenen Revolution« nach ukrainischem Vorbild an den Tatsachen vorbei. Dafür bräuchte es zumindest einen konsensfähigen Oppositionskandidaten. Wenn schon der Vergleich mit der Ukraine bemüht wird, dann bietet sich eher die Parallele zur der Kampagne „Ukraine gegen Kutschma“ an. In den Jahren 2000 und 2001 formierten sich in der Ukraine Proteste gegen den damals regierenden Präsidenten Leonid Kutschma. Erst dank der Erfahrungen aus den spontan aufflammenden und anfangs nur rudimentär koordinierten Protesten entstand eine Infrastruktur, auf die der Oppositionsführer und spätere Präsident Wiktor Juschtschenko aufbauen konnte. Doch so weit reichen die Pläne der russischen Protestgruppen noch nicht. Vorerst gilt es, die Proteste in den kommenden Tagen aufrecht zu erhalten und sie mit neuen Inhalten zu füllen. Zumal sich der Widerstand in Russland nicht nur gegen traditionelle Wahlfälschungspraktiken regt.

Nach Angaben des Moskauer Zentrums für Sozial- und Arbeitsrechte fanden im vergangenen Jahr 263 Arbeiterproteste statt, meist in Form von wilden Streiks oder öffentlichen Kundgebungen. Ein legaler Arbeitskampf ist wegen der strengen und widersprüchlichen Gesetzesvorgaben kaum möglich, jegliche Kampfansage wird bereits im Keim erstickt. Im Vergleich zu 2010 nahm die Zahl der Protestaktionen um 28 Prozent zu. Insbesondere fällt auf, dass sich die Proteste auf drei Viertel der insgesamt 83 russischen Regionen ausweiteten und damit sogar einige Regionen erfassten, in denen selbst im wirtschaftlichen Krisenjahr 2009 nicht gestreikt wurde. Auch im Ural, von wo sich Wladimir Putin tatkräftige Wahlkampfunterstützung holte, macht sich Unmut breit. Jede neunte Protestaktion fand im vergangenen Jahr in einem der dortigen Industriegebiete statt.

Bereits für den Sommer dieses Jahres rechnen Wirtschaftsexpertinnen und -experten mit einer erneuten Rezession, diesmal mit schwerer wiegenden Folgen. Russland verfügt mit über 500 Milliarden US-Dollar über hohe Devisenrücklagen, aber der Staatshaushalt ist defizitär. Mehr als die Hälfte der Einnahmen stammt aus dem Export von Energieträgern. Während Putins Amtszeit stieg nicht nur der Anteil des Öl- und Gasgeschäfts am Staatshaushalt, auch der Rohstoffexport erhöhte sich auf knapp 50 Prozent der Fördermenge, während es zu Sowjetzeiten maximal ein Viertel pro Jahr war. Die russische Regierung verfolgt in ihrem Energieprogramm bis 2020 weiterhin hohe Exportraten. Gleichzeitig fehlt es an Investitionen für die Wirtschaft. Wie die von Putin angekündigte Modernisierung Russlands unter diesen Bedingungen aussehen soll, bleibt offen.

Fest steht, dass die Zahl der Arbeiterproteste im Januar 2012 im Vergleich zum Vorjahr zugenommen hat. Es ist längst an der Zeit, den Protesten gegen Wahlmanipulationen eine neue Richtung zu geben. In Fragen, die eine Verbesserung der ökonomischen und Arbeitsbedingungen betreffen, könnte es durchaus eine Übereinstimmung zwischen Protestierenden und den Wählerinnen und Wählern Putins geben. Die anfangs gern kolportierte Version von der Revolution der russischen Mittelklasse ist nach letzten Umfragen ebenso wenig haltbar wie die Behauptung, wer für Putin stimme, stehe fest hinter allen politischen und wirtschaftlichen Reformen der Regierung.

Ute Weinmann

http://jungle-world.com/artikel/2012/10/45021.html

 

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