Im Nordkaukasus sind sogenannte Ehrenmorde an Frauen verbreitet. Die tschetschenische Regierung will nichts davon wissen.
Ramsan Kadyrow, Präsident der russischen Kaukasusrepublik Tschetschenien, wisse nicht, was unter »Ehrenmorden« zu verstehen sei. Zumindest sagte dies unlängst sein Pressesprecher Alwi Karimow. Es handele sich wohl um »etwas Afrikanisches«, vermutete Karimow, die tschetschenische Bevölkerung würde so etwas jedenfalls nicht verstehen. Dabei sollte die Regierung besser informiert sein. Tschetschenien weist neben dem benachbarten Dagestan die meisten bekannten Fälle von Entführungen und Tötungen meist junger Frauen unter 30 Jahren durch männliche Verwandte auf, weil jene angeblich die »Familienehre beschmutzt« hätten.
Wovon Kadyrow nichts wissen will, erfährt Swetlana Gannuschkina, Leiterin der Moskauer Menschenrechtsorganisation Civic Assistance, fast jeden Tag. Während der beiden Tschetschenien-Kriege lag einer ihrer Arbeitsschwerpunkte in der Unterstützung von Flüchtlingen aus der Krisenregion, inzwischen konzentriert sich ihre Arbeit im russischen Nordkaukasus stärker auf die Lage der Frauen. Obwohl Tschetschenien längst als »befriedet« gilt, sind Entführungen an der Tagesordnung und Menschen suchen Zuflucht an einem sicheren Ort – je weiter weg, desto besser. Für Frauen ist die Situation besonders schwierig, denn nicht selten konfiszieren Verwandte deren Ausweise, was ihre Bewegungsfreiheit extrem einschränkt und eine Flucht ins Ausland praktisch unmöglich macht.
Nach exakten Zahlen über misshandelte oder getötete Frauen sucht man indes vergeblich. Nur wenige spektakuläre Fälle dringen an die Öffentlichkeit, wie beispielsweise die Erschießung sieben junger Frauen Ende 2008. Noch seltener finden polizeiliche Ermittlungen statt. Selbst in weniger repressiven Gesellschaften als der tschetschenischen werden Konflikte innerhalb der Familie als reine Privatsache behandelt, auch wenn es um körperliche oder psychische Misshandlungen geht. In Tschetschenien allerdings trägt die langjährige Einschüchterung der Bevölkerung Früchte. Gannuschkina sagt, dass Informationen aus Dagestan viel leichter zugänglich seien als aus Tschetschenien. Einer ihrer dortigen ehrenamtlichen Mitarbeiter berichtete, dass es allein in seinem Dorf etwa zehn bekannte Fälle von »Ehrenmorden« pro Jahr gebe.
Es braucht nicht viel, um eine Frau der »Schande« zu bezichtigen. Der Mord an der 22jährigen Marjam Magomedowa aus Dagestan im August 2010 erfolgte, nachdem sie eine SMS und einen Anruf eines Mannes erhalten hatte. Der Name des Mörders war der Polizei bekannt, doch die Ermittlungen liefen schleppend und wurden schließlich eingestellt. Die Tschetschenin Gülnara Aslanowa erstattete Anzeige bei der Polizei gegen ihren Ehemann, der sie regelmäßig körperlich misshandelte. Ihre Freundin Sarema wagte es, einen Russen zu heiraten. Beiden droht die Verwandtschaft mit Vergeltung, sollten die Frauen, die mittlerweile im Ausland leben, nach Tschetschenien zurückkehren.
Dass selbst ein regulärer Aufenthaltsstatus im europäischen Ausland nicht unbedingt vor der rachsüchtigen Verwandtschaft schützt, zeigt das Beispiel einer junger Tschetschenin, die seit einigen Jahren in Deutschland lebt. Ihre Verwandten erfuhren von ihrem Verhältnis mit einem russischen Mann. Eine in der Ukraine anberaumte familiäre Aussprache endete mit dem Versuch, die junge Frau nach Tschetschenien zu entführen. Allerdings gelang es ihr, sich von der Wohnung in Kiew aus, in der sie gefangen gehalten wurde, an Gannuschkina von Civic Assistance zu wenden. Deren Einsatz ist es zu verdanken, dass die bedrohte Frau nach Deutschland zurückkehren konnte. Wochen später entführten Verwandte die junge Frau jedoch von dort nach Frankreich, um sie zu töten. Wieder hatte sie Glück im Unglück: Die französische Polizei konnte den Mord rechtzeitig verhindern. Nun lebt sie wieder in Deutschland, mit der Gewissheit, dass sie nicht vor erneuten Entführungsversuchen geschützt ist.
Die russische Menschenrechtsorganisation Memorial versucht derzeit, im Fall einer Anfang Dezember 2011 ermordeten jungen Tschetschenin Druck auf die Ermittlungsbehörden auszuüben. Zwar wurde inzwischen ein Strafverfahren wegen Mordes eingeleitet, die Betroffene, der Memorial das Pseudonym Heda gab, gilt aber fälschlicherweise als vermisst. Eine knappe Woche vor dem Mord war die Studentin aus ihrem Heimatort wie gewohnt in die tschetschenische Hauptstadt Grosny zur Universität gefahren. Doch dort kam sie nie an. Am Tag darauf wurde bekannt, dass sie von ihrem »Verlobten« zu dessen Verwandten verschleppt worden war. Aus ungeklärten Gründen schickten diese die Braut wider Willen allein in einem Taxi zu ihren Eltern mit der Auflage, bis zur offiziellen Verlobung den Namen des Bräutigams zu verheimlichen.
Dennoch fanden die Eltern heraus, wer ihre Tochter entführt hatte. Schließlich mischten sich entfernte Verwandte Hedas in den Konflikt ein, einer davon ist Vorsitzender der Gebietsverwaltung, sein Bruder Chef einer Polizeiwache. Mehrmals misshandelten sie die Studentin und behaupteten, sie plane, sich dem bewaffneten Widerstand anzuschließen. Am Ende holten die Männer sie mit dem Auto ab, erwürgten sie mit ihrem Halstuch und warfen Hedas Leiche vor das Haus ihrer Eltern. Niemand aus der Familie will diesen Vorfall kommentieren.
Die Zunahme familiärer Gewalt gegen Frauen erklärt sich nicht allein aus einem fundamentalistischen Verständnis des Islam im Nordkaukasus. In Tschetschenien ist sie auch die logische Konsequenz aus der jahrelangen und systematisch betriebenen staatlichen Hetzpropaganda gegen Frauen. Bereits 2006 verurteilte Kadyrow, damals noch Ministerpräsident Tschetscheniens, die Nutzung von Handys durch Frauen. Flirts per SMS schadeten dem weiblichen »moralischen Antlitz«. Dem folgten strenge Kleidungsvorschriften und Kadyrows Äußerung, die Frau sei Eigentum des Mannes. Und sollte sich eine Frau zu viel herausnehmen, sorgen traditionelle »Bräuche und Gepflogenheiten« für die Wiederherstellung einer tödlichen patriarchalischen Ordnung.
Ute Weinmann