Das Verfahren gegen Mitglieder der russischen feministischen Punkband Pussy Riot in Moskau gerät immer mehr zum Schauprozess.
Ein Gerichtssaal im Moskauer Stadtteil Chamowniki bildet seit Ende Juli die Kulisse für die Inszenierung eines politischen Lehrstücks im Stil einer Groteske. Mit der Verurteilung der drei Angeklagten ist zu rechnen. Sie erwartet eine Freiheitsstrafe bis zu sieben Jahren wegen »Hooliganismus«. Die Anklage fordert drei Jahre Strafkolonie. Das Gericht versucht, den Prozess nun schnell zu beenden. Dass der Strafprozess Erkenntnisse über das zu Tage bringt, was Nadeschda Tolokonnikowa, Maria Aljochina und Jekaterina Samuzewitsch tatsächlich taten, ist kaum zu erwarten. Um wirkliche Aufklärung der Tatsachen geht es bei dem Verfahren auch gar nicht. Drei Frauen wird ein politischer Prozess gemacht, bei dem viel über Moral gefaselt wird, aber kein Wort über Politik verloren werden darf. Es wird auch nicht darüber debattiert, ob derjenige, gegen den sich die Aktion der drei Punk-Musikerinnen richtete, von dieser überhaupt tangiert wurde. Er erschien weder vor Gericht noch wird er in den Unterlagen der Anklage genannt. Doch ist es ein offenes Geheimnis, dass die Initiative für den Schauprozess in Chamowniki vom russischen Präsidenten Wladimir Putin ausgeht. Dieser, so sagt man, habe immer weniger übrig für Kritik an seiner Person. Gewissheit gibt es nicht, vielmehr steht es in Russland mit der Politik wie mit der Religion – alles Glaubenssache.
Ende Februar hatten Mitglieder der feministischen Punkband Pussy Riot vor dem Altar der Christ-Erlöser-Kathedrale in Moskaus Stadtzentrum eine Performance in farbenfrohen Kleidern und Strickmasken aufgeführt. Auf dem später im Netz erschienenen Video wird diese von lauten E-Gitarren begleitet, tatsächlich ging sie aber ohne Verstärker über die Bühne und wurde durch das Eingreifen anwesender Kirchendiener und Sicherheitsleute schnell beendet: In einem »Punk-Gebet« mit Kniefall riefen die Feministinnen die Mutter Gottes mit der Bitte »Verjage Putin!« an. Niemand dachte daran, die vermeintlichen Störerinnen kirchlichen Friedens der Polizei zu übergeben. Dafür bedurfte es einiger Tage und offenbar eines Befehls von ganz oben.
Schließlich steht die Christ-Erlöser-Kathedrale für die Allianz von Kirche und Staat. Hier zelebriert Patriarch Kyrill I. seine Messen und bekundet der russische Präsident seine Zugehörigkeit zum orthodoxen Glauben. Ersterer, mit bürgerlichem Namen Wladimir Michailowitsch Gundjajew, ist seit Februar 2009 das Oberhaupt der russisch-orthodoxen Kirche. Es fällt indes schwer, von einem geweihten Ort zu sprechen: In den unteren Geschossen des in den neunziger Jahren auf dem Fundament eines Freibades wiedererrichteten, multifunktionalen Kirchengebäudes befinden sich unter anderem ein Parkhaus und Bankettsäle. Die russische Verbrauchervereinigung reichte deshalb unlängst Klage wegen unrechtmäßiger Geschäftstätigkeit der Kirche unter der weithin sichtbaren goldenen Kuppel der Kathedrale ein. Inzwischen hat sie Einblick in neue Unterlagen erhalten. Daraus geht hervor, dass die Kirche eine Reihe von Nutzungsverträgen mit der Stadt über die Räumlichkeiten in dem Gebäude der Kathedrale abgeschlossen hat. Ausgerechnet für den Kirchenraum selbst existiert offenbar kein Vertrag, er wird offiziell von einer säkularen Stiftung verwaltet. Der Teil, in dem sich der Altar befindet, wird also unrechtmäßig genutzt, der Rest sind gewöhnliche Gewerberäume, nur, dass eben die Kirche dort die Geschäfte betreibt. In der Kathedrale sollten also von Rechts wegen eigentlich keine religiösen Regeln gelten. Demnach ist die Kirche ein öffentlicher Ort, an dem Menschen auch singen und tanzen dürfen.
In der Anklageschrift gegen die drei Mitglieder von Pussy Riot steht, dass die jungen Frauen in den für gewöhnliche Gläubige unzugänglichen Teil der Kirche eingedrungen seien und durch ihre Handlungen »über Jahrhunderte bestehende Grundfesten und die grundlegende Führung der russisch-orthodoxen Kirche erniedrigt« hätten. Sie sollen geflucht, Gläubige beleidigt, Tänze imitiert und mit Fäusten auf ihre Gegner eingeschlagen haben – alles aufgrund von religiösem Hass. Ob dieser Anklagepunkt vom Gericht als erschwerender Umstand akzeptiert und nach einem weiteren Paragraphen geahndet wird, ist noch offen. Das eigentliche Motiv von Pussy Riot, nämlich durch ihre Aktion in der Kathedrale auf die Unterstützung des damaligen Präsidentschaftskandidaten Putin durch das Oberhaupt der orthodoxen Kirche hinzuweisen, ignoriert sowohl der in Strafverfahren gegen vermeintliche Gotteslästerer bereits erfahrene Staatsanwalt Alexander Nikiforow als auch die zuständige Richterin Marina Syrowa. Sie lehnte bis auf drei Personen alle Zeugen der Verteidigung ab, darunter auch jene, die einen qualifizierten Beitrag zu den zahlreichen religiösen Fragen hätten leisten können, die der Prozess aufwirft – wie sich der Gläubige zu bekreuzigen habe und ob man ein Gebet mit dem Rücken zum Altar sprechen könne.
Bereits an den ersten Verhandlungstagen kamen alle neun Geschädigten zu Wort, fast alle gehören zum Personal der Christ-Erlöser-Kirche. Ihre Aussagen zeugen von dramatischen Erlebnissen. Eine Hüterin der kircheneigenen Kerzen klagte darüber, wie sehr der dämonische Auftritt ihre Gefühlen, ihren Glauben, ihre Ideale und sogar ihre Persönlichkeit geschändet habe. Auf die Frage der Verteidigung, welche Körperbewegungen in einer Kirche zulässig seien, antwortete sie, nur Verbeugungen seien gestattet. Ein professioneller Kirchenhüter sagte aus, dass er wegen der durch die Aktion hervorgerufenen seelischen Belastung zwei Monate lang seiner Arbeit nicht habe nachkommen können. Einig sind sich die Zeugen aber auch darin, dass die vermeintlichen Delinquentinnen in der Kirche keineswegs zum Sturz Putins aufgerufen haben. Erst in dem besagten Videoclip ist die Vertonung des Punk-Gebets zu hören. Im Übrigen haben darin Sequenzen Eingang gefunden, die in einer anderen Kirche in Moskau gedreht wurden. Gläubige und Kirchendiener sind bei diesem Auftritt der Punkband jedoch offenbar ohne Traumatisierung davongekommen, vor Gericht jedenfalls ist das kein Thema.
Was genau den Mitgliedern von Pussy Riot juristisch zum Vorwurf gemacht wird, ist schwer auszumachen. Maria Aljochina forderte vom Gericht eine Klärung dieser Frage, erhielt jedoch nur erniedrigende Antworten von der Richterin. Den Angeklagten wurde bereits vor Prozessbeginn zu wenig Zeit für die Einsicht in die Prozessakten eingeräumt, während der Verhandlung fällt es ihnen wegen systematischen Schlafentzugs schwer, dem Geschehen zu folgen. Um fünf Uhr morgens müssen die Angeklagten im Untersuchungsgefängnis aufstehen, dann folgt der Transport zum Gericht. Dort wartet ein langer, bis zu elfstündiger Tag im Glaskasten des Gerichtssaals, dem Platz für die Angeklagten. Erst am späten Abend oder nachts erfolgt der Rücktransport ins Gefängnis. Warme Mahlzeiten gibt es nicht. Die jungen Frauen geben sich dennoch nicht geschlagen, wenngleich sie sich in einem Punkt reuig zeigten. So bewertete Nadeschda Tolokonnikowa ihre Aktion als »ethischen Fehlschlag«. Keineswegs hätten sie die Gefühle von Gläubigen verletzen wollen. Doch das findet kaum Gehör.
Dafür erlangten Pussy Riot längst eine internationale Berühmtheit, von der selbst russische Superstars im Showbusiness nicht einmal träumen können. Sting, Peter Gabriel, Patti Smith und die Red Hot Chili Peppers setzten sich für die Punk-Feministinnen ein. Auf ihrer Russlandtournee sprach sich Madonna für Meinungsfreiheit aus und forderte einen Freispruch der Angeklagten. Ihre russischen Musikerkolleginnen und -kollegen hingegen weigerten sich bei einem Konzert in London, auch nur mit einem T-Shirt auf den juristischen Feldzug gegen Pussy Riot hinzuweisen. In Russland lockten die Punk-Feministinnen über 200 sonst eher zurückhaltende Kulturschaffende aus der Reserve und brachten sie dazu, für ihre Freilassung einzutreten, allerdings distanzierte sich der Großteil von dem Punk-Gebet. Ende Juli begannen der reaktionäre Schriftsteller Walentin Rasputin und 30 seiner Gesinnungsgenossen eine Gegenkampagne in der sie eine harte Bestrafung fordern. Putin hingegen gibt sich milde. Die Angeklagten hätten ihre Lektion sicherlich gelernt und sollten nicht mit einer harten Strafe belegt werden. Darüber aber habe ohnehin nicht er, sondern das Gericht zu entscheiden.
Ute Weinmann