Die Oppositionsbewegung in Russland plant wieder Massenproteste, ist aber in der Defensive. Nicht nur die staatliche Repression ist ein Problem, sondern auch ihre eigene Organisation.
In Moskau und St. Petersburg reichten die Veranstalter des für den 15.September geplanten »Marsches der Millionen« kürzlich ihre Anträge auf Genehmigung einer Großdemonstration ein. Nun beginnt das bange Warten darauf, welche Demonstrationsrouten die zuständigen Behörden zulassen. Ob die mit der Demonstration verbundenen Hoffnungen auf ein erneutes Aufflammen der Proteste nach der langen Sommerpause gerechtfertigt sind, wird die Teilnehmerzahl zeigen. Von Aufbruchstimmung kann derzeit aber keine Rede sein, die russische Opposition befindet sich in der Defensive.
Ende August verurteilte ein Gericht in Smolensk eine Aktivistin der Oppositionspartei »Anderes Russland«, Taisija Osipowa, zu acht Jahren Haft. Sie wurde des Drogenhandels beschuldigt. Osipowa sagte aus, das bei einer Hausdurchsuchung sichergestellte Heroin sei ihr untergeschoben worden. Anhänger der nichtregistrierten Partei des Nationalbolschewisten Eduard Limonow behaupten, dass mit dem Urteil Druck auf den Ehemann der Verurteilten ausgeübt werden soll, der zu den führenden Protagonisten des »Anderen Russland« zählt. Ende 2011 hatte das Gericht Osipowa zunächst zu zehn Jahren Haft verurteilt, aber da der damalige russische Präsident Dmitrij Medwedjew das Urteil aber als überzogen einstufte, rollte die Staatsanwaltschaft den Fall erneut auf und forderte eigentlich nur vier Jahre Haft. Der Gerichtsentscheid von Smolensk zeigt, was Oppositionelle zu erwarten haben, nun, da es im Kreml keinen einzigen auch noch so zurückhaltenden Fürsprecher mehr für sie gibt.
Selbst eine hohe Beteiligung am »Marsch der Millionen« ändert nichts an der organisatorischen und argumentativen Schwäche der Bewegung. Mit der Auflösung von »Occupy Abaj« Mitte Mai, wo sich die Protestbewegung erstmals mit grundsätzlichen Fragen des Aufbaus einer besseren Gesellschaft beschäftigt hatte, anstatt sich mit Parolen gegen Wladimir Putin und seine Wiederwahl zum Präsidenten zu begnügen, besiegelte sie ihr vorläufiges Ende. Kaum jemand fand sich bereit, den neugewonnenen Freiraum für breit angelegte Diskussionen über die politische Zukunft zu verteidigen. Folglich fanden Debatten über das weitere Vorgehen der Opposition wieder im kleinen Kreis einiger Führungspersonen statt, die durch die liberalen Medien unterstützt worden waren. Für eine Bewegung, die sich als demokratische Alternative zum bestehenden, Demokratie bestenfalls imitierenden Herrschaftssystem versteht, könnte diese Hierarchisierung des Protests fatale Folgen haben.
Dass es dem fast ausschließlich aus Oppositionellen aus dem liberalen Lager bestehenden Organisationskomitee, das zu Beginn der Proteste im vergangenen Winter gegründet worden war, an Legitimation fehlt, wurde immer deutlicher. Als Konsequenz aus der Kritik sollen nun registrierte Wählerinnen und Wähler am 20. und 21. Oktober einen oppositionellen Koordinationsrat aus 45 Personen bestimmen dürfen. Wer sich rechtzeitig für die Teilnahme entscheidet, kann, so die Initiatoren, das »Parlament seiner Träume« wählen. Die Aufteilung des Gremiums in vier Fraktionen – eine linke, eine liberale, eine nationalistische und, als bedeutendste, eine »zivilgesellschaftliche« mit 30 Mandaten – zeigt, dass die Protestbewegung allein an ihrem einzigen Grundkonsens »Gemeinsam gegen Putin« festhält. Welche Funktionen der Koordinationsrat ausüben soll, steht nicht zur Debatte, ebenso wenig dessen inhaltliche Positionierung innerhalb der Oppositionskräfte.
Nach wie vor behaupten viele Oppositionelle, dass das Ende der derzeitigen Politik bald bevorstehe. Damit verbinden liberale Kräfte die Hoffnung auf eine Machtübernahme und beanspruchen aufgrund ihrer besseren medialen Unterstützung für sich eine führende Rolle. Diese Hoffnung deckt sich jedoch keinesfalls mit der Erwartung vieler Demonstrationsteilnehmer. Sie sorgen sich um steigende Wohnnebenkosten und die von der russischen Regierung forcierte Kommerzialisierung des Gesundheitsbereichs und des Bildungswesens, die von den Liberalen bislang nur am Rande thematisiert werden. Ein Großteil der russischen Bevölkerung fordert kostenlose staatliche Dienstleistungen, Besserverdienende erklären sich hingegen eher bereit, für diese Dienstleistungen zusätzlich zu zahlen, falls damit eine Qualitätssteigerung einhergeht. Dass gerade Liberale mit Regierungserfahrung über wenig Rückhalt in der Oppositionsbewegung verfügen, zeigte die letzte Massenkundgebung vom 12. Juni deutlich. Michail Kasjanow, der wegen seiner zwielichtigen Geschäftspraktiken als Ministerpräsident zu Beginn der ersten Amtszeit von Präsident Putin den Beinamen »Zwei-Prozent-Mischa« erhielt, erntete während seines Redebeitrags laute Pfiffe. Die liberalen Medien ignorierten diesen Umstand geflissentlich.
Angesichts dessen verwundert es wenig, dass auch russische Nationalisten in der Oppositionsbewegung weiterhin ihren festen Platz haben. Seit etwa zwei Jahren bemühen sich die bekanntesten Anführer rechter Zusammenschlüsse wie Alexander Below, Wladimir Tor und Konstantin Krylow mit seiner sich im Aufbau befindenden Nationaldemokratischen Partei um ein moderates Auftreten. Sie fordern eine legale parlamentarische Vertretung nach dem Vorbild westlicher rechter und nationalistischer Parteien. Diesen Anspruch will ihnen die Oppositionsbewegung nicht absprechen, sie behält sich lediglich vor, die Spreu vom Weizen zu trennen. Scheinbar geläuterte Anführer der extremen Rechten werden innerhalb der Opposition weithin akzeptiert, auch wenn sie trotz ihrer Selbstinszenierung als Demokraten fest in der rechtsextremen Szene verwurzelt bleiben und sich nicht einmal von rassistischen Gewalttaten distanzieren. Allerdings verlangt das auch niemand öffentlich von ihnen.
Dabei bringt die Beteiligung rechtsextremer Vereinigungen der Protestbewegung nicht einmal zahlenmäßig viel Zulauf. Angesichts Zehntausender Teilnehmerinnen und Teilnehmer bei Massenkundgebungen fallen einige Hundert organisierte Rechtsradikale kaum ins Gewicht. Sie fallen aber auf durch das Tragen schwarz-gelb-weißer Flaggen des Russischen Imperiums und ihr aggressives Auftreten, mit dem sie sich regelmäßig einen Platz in unmittelbarer Nähe der Rednertribüne und der Fernsehkameras sichern. Allerdings erfährt ihre Präsenz bislang weder Zuspruch in der Bewegung, noch nehmen sie eine konsolidierende Rolle innerhalb der zersplitterten Rechten ein. Denn ein wesentlicher Teil der rechtsextremen Szene verwahrt sich gegen eine Kooperation mit der liberalen Opposition und bleibt deren Veranstaltungen fern. Aus diesem Grund hat auch der nationalistische Antikorruptionspolitiker Aleksej Nawalnyi in der extremen Rechten nur wenig Rückhalt. Das ändert jedoch nichts an seinem bislang erfolgreichen Bestreben, die Rechte politisch hoffähig zu machen und zu legitimieren.
Die russische Linke nimmt die Präsenz der extremen Rechten in der Oppositionsbewegung ebenso hin wie praktisch alle anderen oppositionellen Gruppen. Anlass für Kritik an den geplanten Wahlen für den Koordinationsrat bietet aus ihrer Sicht einzig das undemokratische Verhalten liberaler Oppositionsvertreter, nicht aber die Zusammensetzung des Rats oder seine Vollmachten. Immerhin verliert die Kommunistische Partei Russlands unter Gennadij Sjuganow in der kommunistischen Opposition an Autorität. Anfang Juli gründete sich eine überregionale kommunistische Vereinigung, die für das kommende Jahr über eine Parteigründung entscheiden will. Allerdings unter Vorbehalt, denn ganz abwenden wollen sich viele Kommunisten von der einzigen in der Duma vertretenen kommunistischen Partei dann doch nicht, wenngleich deren kämpferische Haltung längst dem Zuspruch zur russischen Orthodoxie und ihrer konservativen Staatsverbundenheit gewichen ist.
Seit dem hysterischen Prozess gegen drei Mitglieder der Aktionskunst-Punkband Pussy Riot, die Mitte August wegen »aus religiösem Hass verübtem Hooliganismus« zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren verurteilt wurden, macht die orthodoxe Kirche der Oppositionsbewegung schwer zu schaffen. Orthodoxe Bürgerwehren der Bewegung »Heilige Rus« wurden dazu aufgerufen, zu patrouillieren, um bei blasphemischen Aktionen eine »gerechte Strafe« herbeizuführen. Die Kirche lässt keine Gelegenheit zur Diffamierung jener aus, die sich gegen die strafrechtliche Verfolgung von Pussy Riot aussprechen. Unlängst stürmte eine Gruppe Orthodoxer in Begleitung eines Teams des russischen Fernsehsenders NTV eine Veranstaltung in einem Moskauer Theater, auf der Verteidiger der drei Angeklagten und Prozessbeobachterinnen und -beobachter zugegen waren. Skandalisiert wurde auch die Zerstörung von Holzkreuzen in Archangelsk und im Gebiet Tscheljabinsk, für die eine unbekannte Gruppe mit dem Namen »Volkswille« die Verantwortung übernommen hatte. Die Aktionen gelten der Kirche als Indiz für die Kirchenfeindlichkeit Oppositioneller.
Einen vorläufigen Höhepunkt erreichte die staatliche und kirchliche Hetze gegen linke Oppositionelle, als Ende August in Kazan die Leichen zweier Frauen in deren Wohnung aufgefunden wurden. An der Wand stand mit Blut geschrieben »Free Pussy Riot!« Zwar verhaftete die Polizei bereits am folgenden Tag den mutmaßlichen Mörder, der zugegeben haben soll, er habe damit von seiner Täterschaft ablenken wollen, das hielt staatsnahe Medien und Vertreter der orthodoxen Kirche jedoch nicht von absurden Anschuldigungen ab. So ließ Dmitrij Smirnow, eines der führenden Mitglieder des Moskauer Patriarchats und zuständig für die Zusammenarbeit mit den Streitkräften, verlautbaren, dass die Aufschrift des Mörders von Kazan kein Zufall gewesen sei: Wer Pussy Riot unterstütze, unterstütze auch solche Taten. »Sie tragen die Verantwortung für alles, was in unserem Land unter dem Banner dieser Gruppe geschieht«, erklärte Smirnow.
Ute Weinmann